Originaltitel:
The Phantom of the Opera
Regie: Rupert Julian, Drehbuch: Elliott J. Clawson, Musik (Premiere):
Joseph Carl Breil, hier: Gabriel Thibaudeau
Darsteller:
Lon Chaney, Mary Philbin, Norman Kerry, Arthur Edmund Carewe, Gibson Gowland, Mary
Fabian, Virginia Pearson Snitz Edwards, John St. Polis
Die neuen Eigentümer des renommierten, allerdings angeblich
verfluchten Pariser Opernhauses staunen nicht schlecht, als die gefeierte
Primadonna Carlotta (die echte Opernsängerin Mary Fabian in ihrer einzigen Filmrolle) ihnen einen vom "Phantom"
unterzeichneten Drohbrief zeigt. Darin wird gefordert, daß die
junge Sängerin Christine Daaé (Mary Philbin, "Der Mann, der lacht")
die Hauptrolle im großen Saisonauftakt mit Charles Gounods Oper "Faust"
übernimmt, ansonsten werde es Carlotta schlecht ergehen. Zwar wurden die neuen
von den alten Eignern bereits vor diesem mysteriösen Phantom gewarnt, das mutmaßlich unter dem Gebäude haust, doch mit einer solchen Drohung hatten sie
sicher nicht gerechnet. Tatsächlich kommt daraufhin Christine zum Einsatz und liefert
eine fantastische Vorstellung ab – woraufhin sie mit ihrem Geliebten, dem
adligen Raoul (Norman Kerry, "Der Glöckner von Notre Dame"), Schluß
macht, weil er will, daß sie heiraten und sie ihre Karriere beendet. Das unsterblich in sie verliebte, aber körperlich entstellte Phantom
(Lon Chaney, "Die unheimlichen Drei") spricht zu Christine wie ein Mentor und
ermutigt sie, und als in der nächsten Vorstellung doch wieder Carlotta auftritt,
zeigt sich, daß seine Drohung keineswegs leer war. Daraufhin machen sich der
besorgte Raoul und der verdeckt ermittelnde Polizist Ledoux (Arthur Edmund Carewe,
"Doctor X") auf die Jagd nach dem Phantom …
Kritik:
Gaston Lerouxs romantischer Schauerroman "Das Phantom der
Oper" ist ein echter
Evergreen und wird deshalb auch gut 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung
1909 immer wieder neu adaptiert. Am bekanntesten und erfolgreichsten ist
sicher Andrew Lloyd Webbers scheinbar unkaputtbares
Musical, das seit 1986 über die ganze Welt verteilt gezeigt wurde und immer
noch wird und im Jahr 2004 mäßig gelungen verfilmt wurde. Zum Glück gibt es
weit bessere Filmversionen, die sich direkt – wenn auch teilweise mit etlichen
inhaltlichen Änderungen – auf das Buch beziehen, so Arthur Lubins
"Phantom der Oper" von 1943 mit dem fabelhaften Claude Rains in der
Titelrolle oder eine mit zwei Emmys prämierte TV-Miniserie von 1990 (mit
Charles Dance, Teri Polo und Burt Lancaster); Brian de Palma schuf zudem mit
seinem "Phantom of the Paradise" eine eigenständige, aber klar von
Leroux inspirierte Version der Geschichte. Als beste "Phantom der
Oper"-Adaption gilt Kennern trotz einer holprigen
Produktionsgeschichte Rupert Julians Stummfilm aus dem Jahr 1925. Als Cineast
kann man sich glücklich schätzen, daß der Film nicht wie so viele andere
Werke aus der Frühzeit des Kinos (darunter leider einige mit Hauptdarsteller Chaney)
verlorenging, denn Julians "Das Phantom der Oper" ist zweifellos ein
Meilenstein des phantastischen Kinos, der nicht zuletzt aufgrund seiner handwerklichen
Meisterschaft selbst fast ein Jahrhundert später kaum an Faszination verloren
hat.
Dabei wurden insgesamt sogar fünf zum Teil
sehr unterschiedliche Schnittfassungen erstellt (in einer wird aus dem Film
eher eine romantische Komödie, was beim Publikum jedoch gar nicht gut ankam), von
denen laut Wikipedia nur noch zwei erhalten sind. Darunter befindet sich die
vorliegende Version von 1930, die zwischenzeitlich restauriert und mit
einer neuen Musik von Gabriel Thibaudeau versehen wurde. Durch die verschiedenen Fassungen gab es neben dem gebürtigen Neuseeländer Julian ("Rummelplatz des Lebens") noch drei weitere, nicht
offiziell genannte Regisseure (darunter der legendäre schwäbischstämmige
Filmmogul Carl Laemmle höchstselbst sowie Hauptdarsteller Lon Chaney), und
obwohl in Vor- und Abspann gar kein Drehbuch-Autor erwähnt wird, trugen wohl
acht Männer zum Skript bei. Eigentlich keine guten Voraussetzungen, zumal es
zwischen (Haupt-)Regisseur Rupert Julian und seinem auch hinter den Kulissen
einflußreichen Star Lon Chaney mächtig krachte bezüglich der Interpretation des
Phantoms. Daß das Resultat trotzdem vollkommen gerechtfertigt zu den großen
Stummfilm-Klassikern zählt, ist daher umso bemerkenswerter. Das ist zu einem großen Teil Lon Chaney geschuldet, denn der für seine Schauspielkunst
ebenso wie für die von ihm selbst gestalteten, oft furchterregenden Masken als
"der Mann mit den 1000 Gesichtern" gerühmte Mime spielt das Phantom,
diese tragische, mißgestaltete Figur, mit Leidenschaft und Intensität, mit
einem bedrohlichen Furor, mit dem er jede Szene beherrscht.
Das ist dramaturgisch nicht immer ganz unproblematisch, denn der eigentliche
romantische Held der Story, Raoul, bleibt in
Norman Kerrys Darstellung vergleichsweise blaß. Aber dafür hat Chaney eine
denkwürdige Filmfigur geschaffen, die das phantastische Kino der kommenden
Jahrzehnte – und ganz besonders die legendären Universal-Monsterfilme der 1930er
und 1940er Jahre, in denen auch Lon Chaneys gleichnamiger Sohn u.a. als
"Der Wolfsmensch" eine tragende Rolle spielte – prägen sollte.
Ganz alleine zeichnen Lon Chaney als Phantom und die von Mary
Philbin in ihrer Zerrissenheit zwischen Karriere und Liebe erfreulich
ambivalent verkörperte Christine aber natürlich nicht für das Gelingen von
"Das Phantom der Oper" verantwortlich. Die aufwendigen Kulissen (die für den Film von 1943 wiederverwendet wurden) und Kostüme und eindrucksvolle
Massenszenen tragen ebenso dazu bei wie einige enorm effektive Schockmomente sowie die vom deutschen Expressionismus á la F. W. Murnau ("Nosferatu") geprägte Kameraarbeit.
Einen Höhepunkt stellt eine große Kostümballszene in der Oper dar, in
der sich das Phantom in der Verkleidung des "Roten Todes" aus Edgar
Allen Poes "Die Maske des Roten Todes" zeigt und die auch deshalb besonders ist, weil der Film hier vorübergehend von seiner sonstigen Monochromie
in einen von Rottönen dominierten Zweifarben-Technicolor-Film wechselt.
Ursprünglich waren alle musikalischen Szenen (also speziell die
Opernaufführungen) in Farbe, allerdings ist nur vom Maskenball die
Farbversion erhalten geblieben – was durch die Einzigartigkeit diese
sowieso eindrucksvolle Sequenz eher noch weiter aufwertet. Inhaltlich muß man
konstatieren, daß sich die Figurenzeichnung aufgrund der naturgemäßen
Restriktionen des Stummfilms relativ grob entwickelt, doch zumindest beim
Phantom und bei Christine ist sie durchaus überzeugend geraten. Insgesamt
ist "Das Phantom der Oper" vor allem atmosphärisch noch
immer eine Wucht mit durchdachten Bildkompositionen und einigen clever aufgebauten
Schockmomenten, die durch die dramatische Musik von Gabriel Thibaudeau, mit der
diese restaurierte Fassung unterlegt ist, noch gekonnt verstärkt werden.
Fazit: "Das Phantom der Oper" ist ein
opulenter und trotz blasser Nebenfiguren ungemein stimmungsvoller Stummfilm, der
mit einem leidenschaftlich aufspielenden Hauptdarsteller Lon Chaney und
einigen ikonischen Gruselmomenten kaum etwas von seiner Faszination verloren
hat.
Wertung: 8,5 Punkte.
In der Arte Mediathek kann "Das Phantom der Oper" bis 31. Januar 2021 kostenlos abgerufen werden.
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