Empfohlener Beitrag

In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 14. Juli 2021

DIE AUSGRABUNG (2021)

Originaltitel: The Dig
Regie: Simon Stone, Drehbuch: Moira Buffini, Musik: Stefan Gregory
Darsteller: Carey Mulligan, Ralph Fiennes, Lily James, Johnny Flynn, Archie Barnes, Monica Dolan, Ben Chaplin, Ken Stott, Paul Ready, Arsher Ali
Die Ausgrabung (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 88% (7,1); weltweites Einspielergebnis: $0,001 Mio.
Altersempfehlung: 12, Dauer: 112 Minuten.
England, 1939: Die jung verwitwete Gutsbesitzerin Edith Pretty (Carey Mulligan, "Der große Gatsby") vermutet auf ihrem Land archäologische Schätze, da es von auffälligen und scheinbar nicht natürlichen Hügelchen übersät ist. Weil das örtliche Museum gerade mit einer wichtigeren Grabungsstätte beschäftigt ist, wird zu Mrs. Pretty nur der zwar erfahrene, aber nicht klassisch ausgebildete Ausgräber Basil Brown (Ralph Fiennes, "Official Secrets") geschickt, welcher ihre Vermutung bestätigt und sich sogleich ans Werk macht. Schon bald gelingen ihm und seinen Helfern – zuzüglich Edith' enthusiastischen Sohns Robert (Archie Barnes) – erste Funde, und dann stößt Basil auf eine echte Sensation: Unter einem Hügel ist ein Grabschiff begraben, das mindestens aus der Wikingerzeit stammt, Basils Ansicht nach aber sogar noch älter und damit angelsächsisch ist – was den bisherigen Erkenntnissen über deren Verbreitungsgebiet in dieser Ära widerspräche. Ob der Bedeutung dieser Entdeckung schaltet sich wegen des nationalen Interesses das British Museum ein und der führende Archäologe Charles Phillips (Ken Stott, "Der Hobbit") übernimmt mit seinem Team die Leitung, zu dem auch das ungleiche Ehepaar Peggy (Lily James, "Yesterday") und Stuart Piggott (Ben Chaplin, "Snowden") gehört. Basil ist davon wenig begeistert, macht dann aber doch weiter, zumal zwischen ihm und Mrs. Pretty eine echte Freundschaft erwachsen ist. Was niemand weiß: Edith Pretty ist schwer herzkrank und könnte quasi täglich sterben …
 
Kritik:
Bei den zunehmend ausufernden Bemühungen des weltweiten Streaming-Marktführers Netflix, als Filmproduzent aufzutreten, läßt sich ein ziemlich klares Schema erkennen: Entweder man schielt auf die Awards Season mit dem Höhepunkt OSCAR-Verleihung (z.B. "The Irishman", "Marriage Story" oder "Roma"), zielt klar auf ein jugendliches Publikum ab (z.B. mit "All the Boys I've Loved Before" oder "The Kissing Booth" mitsamt Fortsetzungen) oder man will mit das Mainstream-Publikum mit ebenso teuren wie actionreichen und häufig leider auch ziemlich anspruchslosen Star-Vehikeln abholen ("Army of the Dead", "The Old Guard", "Bright", zahllose Adam Sandler-Komödien). Gelingt einer Netflix-Produktion das Kunststück, in keine dieser drei Kategorien so richtig zu passen, hat sie damit zwar eine Art Alleinstellungsmerkmal, droht aber auch, komplett unter dem Radar zu fliegen und schnell in Vergessenheit zu geraten. Dieses Schicksal scheint unverdienterweise "Die Ausgrabung" zu ereilen, die Adaption eines auf einer wahren Geschichte basierenden Romans von John Preston durch den schweizer-australischen Regisseur Simon Stone ("Die Wildente"). Für Mainstream ist die melancholische Story viel zu charakter- und dialoggetrieben und jugendliche Zuschauer dürfte sie ebensowenig ansprechen – zu den Prestigeprojekten für die Awards Season wiederum würde "Die Ausgrabung" eigentlich gut passen, wurde aber abgesehen von fünf Nominierungen für die britischen BAFTA Awards weitestgehend ignoriert. Für mich völlig unverständlich, denn Stone ist ein wirklich schönes und zu Herzen gehendes Drama mit kinoreifen Bildern gelungen, das zudem mit Carey Mulligan und Ralph Fiennes zwei herausragende Schauspieler in den Hauptrollen aufbietet. Das Resultat ist einer der besten Netflix-Filme, den bedauerlicherweise wenige gesehen zu haben scheinen.
 
Ein Thema steht in "Die Ausgrabung" über allem: Vergänglichkeit. Am offensichtlichsten ist das naturgemäß anhand der titelgebenden archäologischen Ausgrabungen, welche die Relikte einer lange vergangenen Zeit und lange verstorbener Menschen aus einem lange untergegangenen Volk zu Tage fördern. Doch auch der kurz vor dem Ausbruch stehende und durch die immer wieder die Gegend überfliegenden britischen Kampfflieger personifizierte Zweite Weltkrieg mit den Millionen von Toten und unbeschreiblichen Gräueln liegt lauernd am Rande des Blickfelds und legt einen schweren Nebel der Melancholie über die auf den ersten Blick idyllische rurale Szenerie. Und dann ist da noch Edith' tödliche Krankheit, von der zunächst nur sie weiß und die ihr einen indivduellen, von der so drastisch wie mitleidlos ins Bewußtsein gerufenen eigenen Vergänglichkeit geprägten Blick auf die Vorgänge gibt. Selbst in den Nebenhandlungssträngen spielt die Vergänglichkeit immer wieder eine Rolle (etwa in der kriselnden Ehe von Peggy und Stuart), implizit paßt sogar Basils historische Ausbootung dazu, auch wenn sie im Film selbst noch keine wirkliche Rolle spielt. Wie erwähnt erzählt "Die Ausgrabung" eine im Kern wahre Geschichte, denn Mrs. Pretty und den Selfmade-Archäologen Mr. Brown gab es tatsächlich – jedoch nehmen sich Drehbuch-Autorin Moira Buffini ("Jane Eyre") und Regisseur Simon Stone einige künstlerische Freiheiten. Die grundlegenden Fakten über die Ausgrabung und die Rollen von Mrs. Pretty, Mr. Brown und den sich hineindrängenden "echten" Wissenschaftlern scheinen zu stimmen, bei der Charakterisierung der einzelnen Personen gibt es aus dramaturgischen Gründen aber einige Abweichungen, die in erster Linie die weiblichen Rollen betreffen. So war die echte Mrs. Pretty deutlich älter als im Film, nämlich in ihren 50ern (weshalb sie zunächst Nicole Kidman spielen sollte), zudem war die helfende Archäologin Peggy Piggott anders als in "Die Ausgrabung" keine Anfängerin und bekam während der Arbeit keinen lokalen Verehrer – im Film ist das Edith' Cousin Rory (Johnny Flynn, "Emma"), der als Photograph an dem Projekt beteiligt ist.
 
Solche künstlerische Freiheiten können Befürworter größtmöglicher historischer Akkuratesse natürlich kritisieren, innerhalb der Geschichte funktionieren sie aber ziemlich gut. Gerade die erfreulich dezent gehaltene vorsichtige Annäherung zwischen Peggy und Rory (wie auch ein noch vorsichtiger angedeutetes romantisches Abenteuer ihres Gatten Stuart) bringen ein wenig Abwechslung in die Handlung und sorgen dafür, daß der Film die enge Beziehung zwischen dem verheirateten Basil und der verwitweten Edith zum Glück rein platonisch bleiben läßt. Die beiden zentralen Protagonisten haben viele Ähnlichkeiten, beide sind letztlich Außenseiter und Einzelgänger, die jedoch genau wissen, was sie wollen und sehr talentiert sind. Und mit der großartigen Carey Mulligan und dem nicht minder großartigen Ralph Fiennes hat Simon Stone genau die richtigen Schauspieler gefunden, um diese beiden Figuren zum Leben zu erwecken. So ist es kein Wunder, daß die gemeinsamen Szenen des Duos zu den stärksten Momenten von "Die Ausgrabung" zählen, wobei die intelligenten Dialoge ebenso hilfreich sind wie eine gekonnte, durchaus kreative Inszenierung. Denn ein Stilmittel, das Stone hier gerne anwendet, ist, daß bei Dialogen zwischen zwei Personen – meist Basil und Edith – nicht oder nur zum Teil gezeigt wird, wie sie miteinander reden; stattdessen sieht man sie oft von hinten oder von der Seite, manchmal werden sie sogar schweigend gezeigt, während die Dialoge aus dem Off gesprochen werden. Dies verleiht dem Ganzen im Verbund mit den ruhigen, poetischen, an die Filme eines Terrence Malick ("The Tree of Life") erinnernden Naturbildern und der beständigen melancholischen Stimmung zur gefühlvollen, langsamen und klavierlastigen Musik von Stefan Gregory (für den Australier ist es das gelungene Debüt als Komponist einer Filmmusik) eine beinahe meditative Note. Daß die eigentliche Handlung ziemlich dünn ist, merkt man zwar, es stört aber nicht weiter. "Die Ausgrabung" erzählt eine zutiefst unspektakuläre, jedoch ungemein gefühlvolle Geschichte, in der nicht viel geschieht, die aber dennoch durch die glaubwürdigen Figuren, die starken (häufig von zur Atmosphäre passendem strömenden Regen geprägten) Bilder und die Musik fesselt sowie durch ein starkes Schauspiel-Ensemble. Den hochkarätigen Nebendarstellern wie Lily James, Ben Chaplin, Johnny Flynn, Ken Stott und dem jungen Archie Barnes – der einige schöne Szenen mit Ralph Fiennes hat – gelingt es nämlich, viel aus ihren kleinen Rollen herausholen.
 
Fazit: "Die Ausgrabung" ist ein gefühlvolles, charaktergetriebenes historisches Drama, das mit melancholischer Stimmung zu Herzen geht und von den beiden glänzenden Hauptdarstellern Carey Mulligan und Ralph Fiennes getragen wird.
 
Wertung: 8,5 Punkte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen