Regie und Drehbuch: David Lynch, Musik: Angelo Badalamenti
Darsteller: Naomi
Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux, Ann Miller, Mark
Pellegrino, Dan Hedaya, Angelo Badalamenti, Monty Montgomery, Robert
Forster, Brent Briscoe, Michael J. Anderson, Billy Ray Cyrus, Lori
Heuring, Melissa George, Patrick Fischler, Lee Grant, Richard Green,
Michael Des Barres, Rita Taggart, Maya Bond, Jeanne Bates, Dan
Birnbaum, Rebekah Del Rio, Bonnie Aarons
Rotten Tomatoes: 84%
(7,8); weltweites Einspielergebnis: $20,4 Mio.
FSK: 16, Dauer: 146
Minuten.
Als die angehende Schauspielerin Betty Elms (Naomi Watts, "Birdman")
aus der kanadischen Provinz in Los Angeles ankommt – wo sie
vorübergehend in der Wohnung ihrer Tante in einem
luxuriösen Apartmentkomplex unterkommt, während diese bei
Dreharbeiten ist –, ist sie voller Träume, Hoffnungen und
unbändiger Begeisterung für die Traumfabrik. Überraschend findet
sie in der Wohnung ihrer Tante allerdings die dunkelhaarige Rita
(Laura Elena Harring, "Die Liebe in den Zeiten der Cholera")
beim Duschen vor. Wie sich herausstellt, hatte Rita in der Nacht
zuvor einen Autounfall, bei dem sie wohl eine Gehirnerschütterung
erlitt und das Gedächtnis verlor. Rita nimmt die geheimnisvolle
Schönheit bei sich auf und will ihr dabei helfen,
herauszufinden, wer sie ist und was geschehen ist – was beide nicht
ahnen: Ein Killer (Mark Pellegrino, TV-Serie "Supernatural")
ist hinter Rita her! Derweil hat der angesagte Regisseur Adam
Kesher (Justin Theroux, "Die Berufung") seine eigenen
Probleme, denn er muß die weibliche Hauptrolle seines nächsten
Films umbesetzen und obwohl sich die besten Schauspielerinnen
Hollywoods darum reißen, bestehen die zwielichtigen
Castigliane-Brüder (Dan Hedaya und Filmkomponist Angelo Badalamenti) als
Produzenten darauf, daß er die unbekannte Camilla Rhodes
(Melissa George, "Die Sinnlichkeit des Schmetterlings") erwählt. Als Adam sich weigert, erlebt er bald die unangenehmen
Konsequenzen seiner Entscheidung ...
Kritik:
Kurz
vor der OSCAR-Verleihung 2002 führte die Internet Movie Database
(IMDb) eine nicht ganz ernstgemeinte Umfrage nach den
wahrscheinlichsten unwahrscheinlichen Ereignissen bei der Verleihung
der Academy Awards in Los Angeles durch. Eine der
Antwortmöglichkeiten hat sich mir bis heute eingeprägt, weil sie
gleichzeitig sehr amüsant und sehr treffend war. Sinngemäß lautete
sie: Der für "Mulholland Drive – Straße der Finsternis"
für den Regie-OSCAR nominierte David Lynch gewinnt und erklärt in
seiner Dankesrede die Handlung seines Films. Das geschah leider nicht
(es gewann Ron Howard für "A Beautiful Mind") und auf eine
definitive Interpretation von "Mulholland Drive" müssen
wir bis heute und vermutlich bis in alle Ewigkeit warten – wobei er
dem Publikum später immerhin zehn "Hilfestellungen" zur
Hand gab (die man bei Wikipedia nachlesen kann, aber wenig
überraschend nur bedingt hilfreich sind). Das verkürzt zwar die
Zielgruppe des erotischen Noir-Thrillers um die vielen Zuschauer, die
Filme ohne einigermaßen verständliche Handlung und ein eindeutiges Ende
nicht leiden können (meine beste Freundin hasst "Mulholland
Drive" aus diesem Grund leidenschaftlich), ist aber eigentlich
gar nicht so schlimm – denn sofern man mit dieser gewollten
kreativen Unschärfe klarkommt, funktioniert "Mulholland Drive"
als fiebriges, rätselhaftes und für Interpretationen offenes
Gesamtkunstwerk selbst dann, wenn man keine Ahnung hat, was genau
Lynch einem damit eigentlich sagen will (falls er das überhaupt
will). Und weil das nicht nur ich so sehe, gilt "Mulholland
Drive" trotz des überschaubaren kommerziellen Erfolges und
durchaus kontroverser (wenngleich insgesamt klar positiver)
Kritikermeinungen längst als Kultfilm und taucht in etlichen
Kritiker-Bestenlisten weit vorne auf, beispielsweise wurde er 2016 in
einer BBC-Umfrage zum bis dahin besten Film des 21. Jahrhunderts
gekürt. Ganz nebenbei ist er mein persönlicher Lieblingsfilm
des eigenwilligen "Twin Peaks"-, "Der
Elefantenmensch"- und "Blue Velvet"-Schöpfers.
Angesichts
des Rufs von "Mulholland Drive" als rätselhaftes
bis unverständliches Enigma mag überraschen, daß Lynchs Film
lange Zeit verhältnismäßig konventionell und linear daherkommt:
Betty und Rita versuchen, mehr über Rita herauszufinden, parallel ärgert sich Adam mit den negativen Seiten des
Filmemachens herum. Die beiden Haupthandlungsstränge unterteilen
sich zwar in verschiedene Genres – die Betty/Rita-Storyline
changiert zwischen erotischem Drama, Thriller und Film Noir, während
Adams Geschichte eher eine schwarzhumorige Filmbusiness-Satire ist
mit Ähnlichkeiten zu Woody Allens "Bullets Over Broadway" – und bieten sehr wohl einige rätselhafte Szenen und Figuren
sowie ein gerüttelt Maß an Skurrilität, letzten Endes ist das
aber fast schon als "normal" zu bezeichnen. Seinen Ruf hat
"Mulholland Drive" größtenteils der letzten halben Stunde
zu verdanken, in der alles auf den Kopf gestellt wird, die Darsteller plötzlich und ohne irgendeine Erklärung andere Rollen
spielen, die Stimmung stark ins Düstere kippt und man generell aus
dem Staunen und Rätseln kaum noch herauskommt. Die Erklärung für
diese drastische stilistische Wende ist denkbar einfach:
"Mulholland Drive" sollte eigentlich eine TV-Serie werden
und die ersten gut 100 Minuten entsprechen weitgehend dem letztlich
vom Sender abgelehnten Pilotfilm. Komplett neu ist der enigmatische
Schluß, denn als Film konnte Lynch die Story natürlich nicht
mit einem Cliffhanger enden lassen – und da es sich um David Lynch
handelt, hat er eben kein profanes, gut verständliches Ende
geschaffen, sondern ein einziges großes Mysterium, das unzählige
Interpretationen zuläßt. Wie gesagt, das muß man mögen, oder
nicht. Für mich funktioniert "Mulholland Drive" als
faszinierendes, stilsicheres und anspielungsreiches Gesamtkunstwerk
einwandfrei, auch wenn ich selbst nach der dritten Sichtung
hinsichtlich der Bedeutung etlicher Entwicklungen im Dunklen tappe.
Aber
eigentlich ist es auch egal, ob es sich bei "Mulholland Drive"
um eine Allegorie auf das Filmgeschäft handelt – wofür u.a. die
zahlreichen archetypischen Nebenfiguren sprechen, die oft nur eine
Szene haben (Cowboy, Detektiv, Killer, die Produzenten-Mafiosi) –, ob
weite Teile der Handlung von einer Figur geträumt oder halluziniert
werden oder ob vielleicht sogar viel zu viel hineininterpretiert
wird, die ganzen schrägen Nebenfiguren keine tiefere Bedeutung haben
und mit einem einzigen Kniff alles erklärbar wird. Denn wie Lynch
seine Geschichte erzählt, fasziniert und unterhält so oder so glänzend, wozu die stimmungsvollen Bildkompositionen von Kameramann Peter
Deming ("The Cabin in the Woods") ebenso beitragen wie die sphärische Musik von Lynchs kongenialem Stammkomponisten
Angelo Badalamenti (der außerdem einen Gastauftritt als einer der
Castigliane-Brüder hat). Zudem zeigt die Australierin Naomi Watts in
der Hauptrolle eine herausragende schauspielerische Leistung, die sie
gemeinsam mit dem ein Jahr später folgenden modernen
Horrorklassiker "Ring" verdientermaßen zum Weltstar
machte. Watts' Leistung ist besonders begeisternd, wenn man die
begeisterungsfähige, optimistische, naive und immer fröhliche
Betty, für die das Rätsel um ihre neue Freundin Rita in erster
Linie ein großes (auch erotisches) Abenteuer ist, mit der letzten
halben Stunde kontrastiert, in der sie – obwohl optisch nicht
verändert – kaum wiederzuerkennen ist als ebenso depressive wie
obsessive Frau, die bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Eine
sensationelle Transformation, die Naomi Watts zum unumstrittenen Star
des Films macht. Das erklärt vielleicht auch, warum ihre
Leinwandpartnerin Laura Elena Harring trotz guter Leistung keinen
echten Karrieresprung schaffte, "Mulholland Drive" vielmehr
der klare Höhepunkt ihres beruflichen Schaffens bleiben sollte.
Natürlich ist Harring schauspielerisch der zweifachen
OSCAR-Nominee Naomi Watts unterlegen, aber sie spielt trotzdem gut und hätte im
Anschluß mehr verdient gehabt als ein paar kleine Nebenrollen in
Kinofilmen sowie Gastauftritte in TV-Serien. Einen guten Eindruck
macht in seinem eigenen Handlungsstrang auch Justin Theroux, der in
etlichen amüsanten Szenen – etwa, als er seine Ehefrau Lorraine (Lori
Heuring, "Zombies") in flagranti mit dem von Countrysänger und Miley-Vater
Billy Ray Cyrus verkörperten Gene erwischt – komödiantisches
Talent zeigt. Ansonsten gibt es keine Rollen, die genug Szenen haben, um nachhaltig Eindruck zu schinden, doch unter den bekannten Namen wie Melissa George, Robert Forster ("Jackie Brown", als Detektiv)
oder Patrick Fischler (dessen Besetzung im deutlich von "Mulholland
Drive" inspirierten "Under the Silver Lake" 17 Jahre
später vermutlich seinem kurzen Auftritt in Lynchs Film geschuldet
ist) sticht Mark Pellegrino als Auftragskiller aufgrund einer witzigen Sequenz positiv hervor, in der ein Auftrag nicht ganz nach
Plan abläuft … Insgesamt ist und bleibt "Mulholland Drive"
ein zutiefst enigmatischer bis irritierender, aber mindestens ebenso
faszinierender Genre-Mix, der das Publikum zwar spaltet, aber gerade
Fans von David Lynchs Gesamtwerk viel Freude bereiten sollte.
Fazit:
"Mulholland Drive – Straße der Finsternis" ist ein ungemein atmosphärischer, aber
auch sehr rätselhafter Genremix mit vielen skurrilen Figuren und
einer tollen Hauptdarstellerin Naomi Watts.
Wertung:
9 Punkte.
"Mulholland Drive – Straße der Finsternis" erscheint am 9. Dezember 2021 von STUDIOCANAL in einer von Lynch selbst beaufsichtigten Restauration als 4K UHD Limited Collector's Edition, auf Blu-ray und DVD sowie digital. Die exklusiv im ARTHAUS Shop erhältliche Collector's Edition enthält umfangreiches Bonusmaterial mit einem Booklet und je drei Featurettes und Interviews – deren Qualität kann ich allerdings nicht beurteilen, da mir lediglich die DVD vorlag, deren Bonusmaterial sich auf eine 10-minütige Einführung und Analyse durch den bekannten französischen Filmkritiker Thierry Jousse beschränkt (bei der normalen Blu-ray fehlt lediglich das Booklet). Ein Rezensionsexemplar wurde mir netterweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.
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