Empfohlener Beitrag

In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Donnerstag, 16. Mai 2024

POOR THINGS (2023)

Regie: Yorgos Lanthimos, Drehbuch: Tony McNamara, Musik: Jerskin Fendrix

Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Vicki Pepperdine, Hanna Schygulla, Jerrod Carmichael, Margaret Qualley, Kathryn Hunter, Jerskin Fendrix, Suzy Bemba
Poor Things (2023) on IMDb Rotten Tomatoes: 92% (8,5); weltweites Einspielergebnis: $117,6 Mio.
FSK: 16, Dauer: 141 Minuten.
Als dem ebenso genialen wie exzentrischen Arzt und Wissenschaftler Godwin "God" Baxter (Willem Dafoe, "Der Leuchtturm") im viktorianischen London die noch ganz frische Leiche einer hochschwangeren Selbstmörderin in die Hände fällt, nutzt er diese Gelegenheit für ein weiteres bizarres Experiment: Er setzt der Frau das Gehirn ihres ungeborenen Kindes ein und erweckt sie so wieder zum Leben. Das Resultat hört auf den Namen Bella (Emma Stone, "Birdman") und ist erwartungsgemäß nicht ganz normal – immerhin ist es eine erwachsene Frau mit dem Bewußtsein eines Babys. Abgeschottet von der Außenwelt und nur mit der Unterstützung des Medizinstudenten Max McCandles (Comedian Ramy Youssef) und der Haushälterin Mrs. Prim (Vicki Pepperdine, "Johnny English 3") zieht Godwin Bella auf und tatsächlich entwickelt die sich nach und nach recht gut. Dabei bildet sie jedoch auch einen zunehmenden Freiheitsdrang aus und als der windige Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Rufallo, "Spotlight") Bella verspricht, sie mit auf eine Reise durch die Welt zu nehmen, überzeugt sie Godwin schließlich, sie gehen zu lassen. Natürlich fällt Bella mit ihrer besonderen, sehr direkten Art und einem ungezügelten Sexualdrang in der Gesellschaft immer wieder auf und bringt nebenbei Duncan an den Rande der Verzweiflung, doch macht sie auf ihrer Suche nach ihrer Identität auch viele interessante Bekanntschaften ...

Kritik:
Nachdem der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des Yorgos Lanthimos mit den zehn OSCAR-Nominierungen für das satirische Polit-Historiendrama "The Favourite" einen vorübergehenden Höhepunkt fand, schafft es der griechische Filmemacher erstaunlicherweise, dieses qualitative Niveau mit der feministischen Frankenstein-Variation "Poor Things" vollauf zu halten oder sogar noch zu steigern. Dieses Mal gab es sogar elf OSCAR-Nominierungen und vier Siege (bei "The Favourite" gewann allein Hauptdarstellerin Olivia Colman), auch die weltweiten Zuschauerzahlen nahmen gegenüber dem (jedoch erheblich günstiger produzierten) Vorgänger noch einmal zu. Und wie schon bei "The Favourite" ist der große Erfolg hochverdient, denn der auf einem (von Mary Shelleys "Frankenstein" inspirierten) Roman von Alasdair Gray basierende "Poor Things" ist trotz der oft adaptierten Grundlage ein ungemein originelles, sogar einzigartiges Kunstwerk. Noch mehr als in seinen vorherigen Filmen zieht Yorgos Lanthimos ohne Rücksicht auf das Mainstream-Publikum sein eigenes Ding durch, unterstützt von einer großartigen Besetzung und herausragenden Leistungen von Kameramann Robbie Ryan ("Philomena"), dem Filmmusik-Debütanten Jerskin Fendrix sowie Kostüm- und Kulissen-Abteilungen.

Wiewohl "Poor Things" als Gesamtkunstwerk in der Tat einzigartig ist, lassen sich in einzelnen Aspekten doch Ähnlichkeiten zu anderen Künstlern und damit eventuelle Inspirationsquellen erkennen. So ist der erste Akt des Films in klassischem Schwarzweiß gedreht und gemahnt bewußt an die Universal-Monsterfilme der 1930er Jahre – allen voran natürlich James Whales "Frankenstein" von 1931. Doch sobald Bellas große Reise beginnt, wird "Poor Things" nicht nur farbig, sondern regelrecht bunt. Das soll natürlich auch Bellas Entwicklung illustrieren, die aus der Eintönigkeit in Godwins Haus unvermittelt und denkbar unvorbereitet in eine Welt voll von Erlebnissen, Verheißungen und Gefahren eintritt. Der farbenfrohe, hyperrealistische visuelle Stil erinnert aber auch ein wenig an die ikonischen pastellfarbenen Puppenhaus-Dioramen eines Wes Anderson (jedenfalls, wenn Anderson ein Faible für Steampunk hätte). Inhaltlich lassen sich gewisse Parallelen zu den schrulligen Filmwelten eines Wes Anderson ebenfalls nicht leugnen – alleine die hinreißende Tanzszene von Bella und Duncan auf ihrer Schiffsreise könnte genauso gut aus "Moonrise Kingdom" stammen. Und der slapstickhafte, anarchische Humor, der auch und besonders gerne in Hintergrunddetails durchscheint (die Möwen-Szene), weckt Assoziationen zur britischen Kult-Komikertruppe Monty Python oder auch dem schwedischen Filmemacher Roy Andersson ("Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach"). Aber wie bereits gesagt: Als Gesamtkunstwerk ergeben diese ganzen Einzelteile ein einzigartiges Kinoerlebnis.

Das liegt natürlich auch am Drehbuch und an der Besetzung. Das Skript des Australiers Tony McNamara ("Cruella") zeichnet Bellas Entwicklung vom kaum artikulationsfähigen Baby im Frauenkörper hin zu einer weiterhin infantilen, aber erkennbar intelligenten, aufgeschlossenen und sehr neugierigen jungen Frau, die ihren Körper und ihre Sexualität ebenso vorurteilsfrei erkundet wie die Welt um sie herum. Emma Stone erhielt für ihre schauspielerische Leistung verdientermaßen ihren zweiten OSCAR (nach "La La Land") und überrascht mit einer äußerst freizügigen Darbietung (bis zu einer harmlosen Nacktszene in Lanthimos' "The Favourite" hatte sie sich vor der Kamera eigentlich stets recht zugeknöpft gegeben). Auch den geistigen und körperlichen Fortschritt Bellas vermittelt sie gekonnt, so in der sich immer weiterentwickelnden Sprache oder ihrer Körperhaltung und ihrem (anfangs betont staksigen) Gang. Das alles wird befördert durch ihre Erlebnisse und Begegnungen, denn obwohl Bella mit ihrer sehr direkten Art in der prüden Gesellschaft der damaligen Zeit natürlich immer wieder (auch negativ) auffällt, trifft sie wiederholt auf aufgeschlossene, geduldige Menschen, die ihr neue Perspektiven eröffnen. Ein Beispiel dafür sind die belesene, altersweise deutsche Schiffsreisende Martha von Kurtzroc (eine sehr schöne Altersrolle für die frühere Fassbinder-Muse Hanna Schygulla) und ihr junger afroamerikanischer Begleiter, der zynische Harry Astley (Jerrod Carmichael, "Bad Neighbors").

Viele Diskussionen zwischen Bella und ihren Zufallsbegegnungen sind von Tony McNamara unterhaltsam geschrieben, die witzigsten Szenen bleiben jedoch ihrer Kommunikation mit dem windigen Frauenhelden Duncan vorbehalten. Der ermöglicht Bella zwar ihr großes Abenteuer, ist von ihrem Verhalten und ihrer Emanzipation aber zunehmend irritiert – was der ebenfalls OSCAR-nominierte Mark Ruffalo immer wieder hinreißend komisch zum Ausdruck bringt. So eindrucksvoll Emma Stones Leistung als Hauptdarstellerin ist – der heimliche Star von "Poor Things" ist in meinen Augen Ruffalo, der wohl nie zuvor so lustig war wie hier! Lob verdient zudem Willem Dafoe als Bellas "Erschaffer" mit dem passenden Rufnamen "God" – wobei hier interessanterweise nicht die wiedererweckte Kreatur entstellt ist, sondern ihr Schöpfer, denn Godwins narbenübersätzes Gesicht sieht als Folge von Experimenten, die sein Vater bereits als Kind mit ihm angestellt hat, wie ein mühsam zurechtgeklöppelter Flickenteppich einzelner Puzzleteile aus. Trotz des grausigen Äußeren und der größenwahnsinnigen wissenschaftlichen Ambitionen – nebenbei hat er auch noch einige Tierchimären erschaffen – ist Godwin für Bella ein liebender Ersatzvater, und diese Wärme vermittelt Willem Dafoe in seiner Performance. Das Gleiche gilt für Youssefs ungewöhnlich zurückhaltende Darstellung von Godwins Assistent, der sich schon bald in Bella verliebt. Insgesamt ist "Poor Things" über seine beträchliche 140 Minuten lange Laufzeit stets unterhaltsam geraten, allerdings sticht der Mittelteil mit Bellas großer Reise qualitativ doch recht deutlich hervor. Der Anfang mit einer Bella im geistigen Babyalter zieht sich etwas und das Finale, in dem mit Alfred Blessington (Christopher Abbott, "It Comes at Night") der Ehemann der "echten" (in ihren Tod gesprungenen) Bella auftaucht und sie zurückhaben will, wirkt dafür ein wenig gehetzt und gezwungen. Trotzdem: "Poor Things" ist ein beeindruckendes Erlebnis von höchster Qualität, das aus dem sonstigen Kinoprogramm meilenweit herausragt.

Fazit: Yorgos Lanthimos' "Poor Things" ist eine hinreißende, intelligente und mutige satirische Frankenstein-Variation, die nicht nur mit zwei tollen Hauptdarstellern begeistert, sondern auch mit der einzigartigen visuellen und akustischen Machart.

Wertung: 9 Punkte.

Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger Bestellungen über einen der amazon.de-Links in den Rezensionen freuen, für die ich eine kleine Provision erhalte.

Poor Things (DVD) 

Poor Things (Blu-ray) 

Poor Things (Buchvorlage von Alasdair Gray, Englisch) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen