Regie: Yorgos Lanthimos, Drehbuch: Tony McNamara, Musik: Jerskin Fendrix
Darsteller: Emma
Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott,
Vicki Pepperdine, Hanna Schygulla, Jerrod Carmichael, Margaret
Qualley, Kathryn Hunter, Jerskin Fendrix, Suzy Bemba
FSK: 16, Dauer: 141
Minuten.
Als dem ebenso
genialen wie exzentrischen Arzt und Wissenschaftler Godwin "God"
Baxter (Willem Dafoe, "Der Leuchtturm") im viktorianischen
London die noch ganz frische Leiche einer hochschwangeren
Selbstmörderin in die Hände fällt, nutzt er diese Gelegenheit für
ein weiteres bizarres Experiment: Er setzt der Frau das Gehirn ihres
ungeborenen Kindes ein und erweckt sie so wieder zum Leben. Das
Resultat hört auf den Namen Bella (Emma Stone,
"Birdman") und ist erwartungsgemäß nicht ganz normal –
immerhin ist es eine erwachsene Frau mit dem Bewußtsein eines Babys.
Abgeschottet von der Außenwelt und nur mit der Unterstützung des
Medizinstudenten Max McCandles (Comedian Ramy Youssef)
und der Haushälterin Mrs. Prim (Vicki Pepperdine, "Johnny
English 3") zieht Godwin Bella auf und tatsächlich entwickelt
die sich nach und nach recht gut. Dabei bildet sie jedoch
auch einen zunehmenden Freiheitsdrang aus und als der windige Anwalt
Duncan Wedderburn (Mark Rufallo, "Spotlight") Bella
verspricht, sie mit auf eine Reise durch die Welt zu nehmen,
überzeugt sie Godwin schließlich, sie gehen zu lassen. Natürlich
fällt Bella mit ihrer besonderen, sehr direkten Art und einem
ungezügelten Sexualdrang in der Gesellschaft immer wieder auf und
bringt nebenbei Duncan an den Rande der Verzweiflung, doch macht sie auf ihrer
Suche nach ihrer Identität auch viele interessante Bekanntschaften ...
Kritik:
Nachdem
der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des Yorgos Lanthimos mit den zehn
OSCAR-Nominierungen für das satirische
Polit-Historiendrama "The Favourite" einen vorübergehenden
Höhepunkt fand, schafft es der griechische Filmemacher erstaunlicherweise, dieses qualitative Niveau mit der
feministischen Frankenstein-Variation "Poor Things" vollauf
zu halten oder sogar noch zu steigern. Dieses Mal gab es sogar elf
OSCAR-Nominierungen und vier Siege (bei "The Favourite"
gewann allein Hauptdarstellerin Olivia Colman), auch die
weltweiten Zuschauerzahlen nahmen gegenüber dem (jedoch
erheblich günstiger produzierten) Vorgänger noch einmal zu. Und wie
schon bei "The Favourite" ist der große Erfolg
hochverdient, denn der auf einem (von Mary Shelleys "Frankenstein"
inspirierten) Roman von Alasdair Gray basierende "Poor
Things" ist trotz der oft adaptierten Grundlage ein ungemein originelles, sogar
einzigartiges Kunstwerk. Noch mehr als in seinen vorherigen Filmen
zieht Yorgos Lanthimos ohne Rücksicht auf das Mainstream-Publikum sein eigenes Ding durch, unterstützt von einer großartigen Besetzung und
herausragenden Leistungen von Kameramann Robbie Ryan ("Philomena"), dem Filmmusik-Debütanten
Jerskin Fendrix sowie Kostüm- und Kulissen-Abteilungen.
Wiewohl "Poor
Things" als Gesamtkunstwerk in der Tat einzigartig ist, lassen
sich in einzelnen Aspekten doch Ähnlichkeiten zu anderen
Künstlern und damit eventuelle Inspirationsquellen erkennen. So
ist der erste Akt des Films in klassischem Schwarzweiß gedreht und
gemahnt bewußt an die Universal-Monsterfilme der
1930er Jahre – allen voran natürlich James Whales "Frankenstein" von 1931. Doch sobald Bellas große Reise beginnt, wird "Poor
Things" nicht nur farbig, sondern regelrecht bunt. Das
soll natürlich auch Bellas Entwicklung illustrieren, die aus der
Eintönigkeit in Godwins Haus unvermittelt und denkbar unvorbereitet
in eine Welt voll von Erlebnissen, Verheißungen und Gefahren eintritt.
Der farbenfrohe, hyperrealistische visuelle Stil erinnert aber auch
ein wenig an die ikonischen pastellfarbenen Puppenhaus-Dioramen eines Wes
Anderson (jedenfalls, wenn Anderson ein Faible für Steampunk hätte). Inhaltlich lassen sich gewisse Parallelen zu den schrulligen
Filmwelten eines Wes Anderson ebenfalls nicht leugnen – alleine die
hinreißende Tanzszene von Bella und Duncan auf ihrer Schiffsreise
könnte genauso gut aus "Moonrise Kingdom" stammen. Und der
slapstickhafte, anarchische Humor, der auch und besonders gerne in
Hintergrunddetails durchscheint (die Möwen-Szene), weckt Assoziationen zur britischen
Kult-Komikertruppe Monty Python oder auch dem schwedischen Filmemacher Roy
Andersson ("Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das
Leben nach"). Aber wie bereits gesagt: Als Gesamtkunstwerk ergeben diese
ganzen Einzelteile ein einzigartiges Kinoerlebnis.
Das liegt natürlich
auch am Drehbuch und an der Besetzung. Das Skript des
Australiers Tony McNamara ("Cruella") zeichnet Bellas
Entwicklung vom kaum artikulationsfähigen Baby im Frauenkörper hin
zu einer weiterhin infantilen, aber erkennbar intelligenten, aufgeschlossenen
und sehr neugierigen jungen Frau, die ihren Körper und ihre
Sexualität ebenso vorurteilsfrei erkundet wie die Welt um sie herum.
Emma Stone erhielt für ihre schauspielerische Leistung
verdientermaßen ihren zweiten OSCAR (nach "La La Land")
und überrascht mit einer äußerst freizügigen Darbietung (bis zu
einer harmlosen Nacktszene in Lanthimos' "The
Favourite" hatte sie sich vor der Kamera eigentlich stets recht
zugeknöpft gegeben). Auch den geistigen und körperlichen
Fortschritt Bellas vermittelt sie gekonnt, so in der sich
immer weiterentwickelnden Sprache oder ihrer Körperhaltung und ihrem
(anfangs betont staksigen) Gang. Das alles wird befördert durch ihre
Erlebnisse und Begegnungen, denn obwohl Bella mit ihrer sehr
direkten Art in der prüden Gesellschaft der damaligen Zeit natürlich
immer wieder (auch negativ) auffällt, trifft sie wiederholt auf
aufgeschlossene, geduldige Menschen, die ihr neue Perspektiven
eröffnen. Ein Beispiel dafür sind die belesene, altersweise
deutsche Schiffsreisende Martha von Kurtzroc (eine sehr schöne
Altersrolle für die frühere Fassbinder-Muse Hanna Schygulla) und
ihr junger afroamerikanischer Begleiter, der zynische Harry
Astley (Jerrod Carmichael, "Bad Neighbors").
Viele Diskussionen zwischen Bella und ihren Zufallsbegegnungen sind
von Tony McNamara unterhaltsam geschrieben, die witzigsten Szenen
bleiben jedoch ihrer Kommunikation mit dem windigen Frauenhelden
Duncan vorbehalten. Der ermöglicht Bella zwar ihr großes
Abenteuer, ist von ihrem Verhalten und ihrer Emanzipation aber
zunehmend irritiert – was der ebenfalls OSCAR-nominierte Mark
Ruffalo immer wieder hinreißend komisch zum Ausdruck bringt. So
eindrucksvoll Emma Stones Leistung als Hauptdarstellerin ist – der
heimliche Star von "Poor Things" ist in meinen Augen
Ruffalo, der wohl nie zuvor so lustig war wie hier! Lob verdient zudem
Willem Dafoe als Bellas "Erschaffer" mit dem passenden
Rufnamen "God" – wobei hier interessanterweise nicht die
wiedererweckte Kreatur entstellt ist, sondern ihr Schöpfer, denn Godwins
narbenübersätzes Gesicht sieht als Folge von Experimenten, die sein
Vater bereits als Kind mit ihm angestellt hat, wie ein mühsam
zurechtgeklöppelter Flickenteppich einzelner Puzzleteile aus. Trotz
des grausigen Äußeren und der größenwahnsinnigen
wissenschaftlichen Ambitionen – nebenbei hat er auch noch einige
Tierchimären erschaffen – ist Godwin für Bella ein liebender
Ersatzvater, und diese Wärme vermittelt Willem Dafoe in seiner Performance.
Das Gleiche gilt für Youssefs ungewöhnlich zurückhaltende Darstellung von Godwins Assistent, der sich
schon bald in Bella verliebt. Insgesamt ist "Poor Things"
über seine beträchliche 140 Minuten lange Laufzeit stets
unterhaltsam geraten, allerdings sticht der Mittelteil mit Bellas
großer Reise qualitativ doch recht deutlich hervor. Der Anfang mit
einer Bella im geistigen Babyalter zieht sich etwas und das
Finale, in dem mit Alfred Blessington (Christopher Abbott, "It
Comes at Night") der Ehemann der "echten"
(in ihren Tod gesprungenen) Bella auftaucht und sie zurückhaben
will, wirkt dafür ein wenig gehetzt und gezwungen. Trotzdem: "Poor
Things" ist ein beeindruckendes Erlebnis von höchster Qualität,
das aus dem sonstigen Kinoprogramm meilenweit herausragt.
Fazit:
Yorgos Lanthimos' "Poor Things" ist eine hinreißende, intelligente und
mutige satirische Frankenstein-Variation, die nicht nur mit zwei
tollen Hauptdarstellern begeistert, sondern auch mit der
einzigartigen visuellen und akustischen Machart.
Wertung:
9 Punkte.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger Bestellungen über einen der amazon.de-Links in den Rezensionen freuen, für die ich eine kleine Provision erhalte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen