Dienstag, 31. Dezember 2019

MARRIAGE STORY (2019)

Regie und Drehbuch: Noah Baumbach, Musik: Randy Newman
Darsteller: Scarlett Johansson, Adam Driver, Azhy Robertson, Laura Dern, Alan Alda, Merritt Wever, Julie Hagerty, Ray Liotta, Kyle Bornheimer, Wallace Shawn, Brooke Bloom, Matthew Shear, Mark O'Brien, Mickey Sumner
Marriage Story
(2019) on IMDb Rotten Tomatoes: 95% (8,8); weltweites Einspielergebnis: $0,3 Mio.
FSK: 6, Dauer: 137 Minuten.
Nach ungefähr zehn Jahren ist die Ehe zwischen dem renommierten New Yorker Off-Broadway-Theaterregisseur Charlie Barber (Adam Driver, "Star Wars Episode IX") und der Schauspielerin Nicole (Scarlett Johansson, "Under the Skin") – die für Charlie eine mögliche Karriere im Film sausen ließ und stattdessen Star seiner Stücke wurde – am Ende. Beide sind sich eigentlich einig, freundschaftlich und ohne den Einsatz von Anwälten auseinanderzugehen. Doch Nicole hat die Hauptrolle in einer neuen TV-Serie ergattert und zieht daher mit dem achtjährigen Sohn Henry (Azhy Robertson) in ihre Heimatstadt Los Angeles – vorübergehend, wie Charlie glaubt. Als sich allerdings abzeichnet, daß Nicole und Henry im Erfolgsfall der Serie dauerhaft in L.A. bleiben wollen und sich Nicole auf Anraten einer Kollegin an die Anwältin Nora (Laura Dern, "The Tale") wendet, hat sich das mit der freundschaftlichen Trennung schnell erledigt. Charlie möchte New York nämlich keinesfalls verlassen und ist auch nicht bereit, auf das Sorgerecht für Henry zu verzichten. Während Charlies Anwalt Bert (Alan Alda, "Bridge of Spies") und Nora versuchen, zu einer gütlichen Einigung zu kommen, nehmen die Spannungen zwischen Nicole und Charlie immer stärker zu …

Kritik:
Der Ansturm des Streamingdienstes Netflix auf den Hollywood-Olymp hat bereits vor ein paar Jahren begonnen und bei der OSCAR-Verleihung 2020 scheint er einen ersten Höhepunkt zu erreichen. Nachdem die Academy sich bis 2018 noch zugeknöpft zeigte und die nicht regulär in den Kinos gezeigten Netflix-Produktionen überwiegend mit Mißachtung strafte, sorgte 2019 vor allem Alfonso Cuaróns mit drei Goldjungen gekrönter "Roma" für einen Stimmungsumschwung. 2020 hat Netflix mit "The Irishman", "Marriage Story", "Die zwei Päpste" und "Dolemite is My Name" gleich vier heiße und hochgelobte Eisen im OSCAR-Feuer (letztlich gab es aber trotz vieler Nominierungen nur einen Academy Award für "Marriage Story"-Nebendarstellerin Laura Dern). Angesichts der beteiligten Namen ist das bei keinem aus diesem Quartett eine große Überraschung und da macht "Marriage Story" keine Ausnahme. Und um ehrlich zu sein: Ohne diese Namen hätte ich wie sicherlich viele andere Filmfans "Marriage Story" wohl keine Chance gegeben, denn Scheidungsdramen versprechen nunmal nicht unbedingt Wohlfühlkino, sondern eher deprimierenden Stoff – selbst wenn man, wie ich, im nahen privaten Umfeld niemals von der Thematik betroffen war. Die bisherigen Klassiker dieses kleinen Drama-Subgenres – Robert Bentons fünffach OSCAR-prämierter "Kramer gegen Kramer" von 1977 und Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" (1973) – habe ich tatsächlich nie gesehen, doch "Marriage Story" konnte ich mir schon wegen der Hauptdarsteller nicht entgehen lassen – und habe das keinesfalls bereut! Denn was Regisseur und Drehbuch-Autor Noah Baumbach ("Frances Ha") basierend auf seinen eigenen Erfahrungen sowohl als Scheidungskind als auch aus seiner Scheidung von der Schauspielerin Jennifer Jason Leigh geschaffen hat, ist ein unaufgeregtes, jedoch umso wahrhaftigeres, dabei ebenso feinfühliges wie tiefgründiges Meisterwerk – das bei aller teils hochemotionalen Dramatik sogar immer wieder überraschend humorvoll ausfällt.

Schon der Einstieg in seinen über zweistündigen Film gelingt Baumbach sehr elegant, denn zu Beginn wirkt "Marriage Story" fast wie eine klassische Romanze: Wir hören zu in idyllischen Bildern eingefangenen Szenen, wie Charlie und Nicole abwechselnd erzählen, was sie an ihrem Ehepartner lieben – und das klingt so warmherzig und ehrlich, daß sie wie ein perfektes Paar erscheinen. Daß das eine Illusion ist, erfahren wir sehr schnell durch die folgende Information, daß die beiden gerade bei einer Paartherapeutin sitzen, welche ihnen die Aufgabe gestellt hat, aufzuschreiben, was sie aneinander lieben. Die Sitzung endet allerdings vorzeitig und bevor sie sich die Texte überhaupt vorlesen. Es wird überdeutlich: Hier ist offensichtlich Hopfen und Malz verloren, diese Ehe, die so perfekt zu begonnen haben scheint … sie ist am Ende! Die Gründe dafür erfahren wir nach und nach, wobei sich herausstellt, daß Nicole die treibende Kraft für die Scheidung ist. Und das ist nachvollziehbar, wenn man hört, wie sie ihre Ehe der einfühlsamen Anwältin Nora schildert; wie Charlie die Beziehung jahrelang dominiert hat und sie, Nicole, für ihn ihre eigenen Ambitionen stets hintanstellte – was wenig überraschend eine immer stärker zunehmende Frustration auf ihrer Seite zur Folge hatte. Mag man sich zunächst auch ein paar Zweifel ob ihrer Aufrichtigkeit bewahren – schließlich hat man seine Sicht der Dinge noch nicht gehört –, verflüchtigen sich diese bald, zumal Charlie ihre Version gegenüber seinem Anwalt Bert sogar indirekt bestätigt. Trotzdem ist Charlie nicht der Böse in dieser Geschichte, denn wenngleich er fraglos schwerwiegende Fehler beging, scheinen die Zwistigkeiten in erster Linie das Resultat unterschiedlicher Sichtweisen und mangelnder Kommunikation zu sein. Anders formuliert: Auch wenn wahrscheinlich die Sympathien der Zuschauer individuell unterschiedlich verteilt sein werden, kann man unterm Strich beide Parteien verstehen.

Meiner Ansicht nach trägt Charlie die größere Schuld am Scheitern der Ehe, wohingegen sich Nicole im Trennungsprozeß mitunter ziemlich unfair verhält – aber wie gesagt, das kann man auch anders interpretieren. Auffällig ist, daß es zwischen all dem Zwist immer wieder schöne harmonische, sogar zärtliche Momente gibt, die vermitteln, daß Nicole und Charlie sich einst wirklich geliebt haben und sich trotz allem im Kern immer noch nahe stehen. Wichtig für die Sympathie des Publikums ist außerdem natürlich, daß beide Noch-Ehepartner in erster Linie versuchen, ihren Sohn Henry aus dem Drama herauszuhalten. Beide verhalten sich im Großen und Ganzen erwachsen und verantwortungsvoll, wenn auch naturgemäß Henry nicht komplett aus der Sache herausgenommen werden kann. Das wirkt sich speziell in fehlender Flexibilität aus, da etwa weder Nicole noch Charlie zu großen Zugeständnissen bereit sind, was die Tage betrifft, an denen Henry bei ihnen ist – schon aus Furcht, eine Art Präzedenzfall für die Anwälte zu schaffen. Womit wir auch schon beim nächsten Thema wären, denn eine Werbebroschüre für Scheidungsanwälte ist "Marriage Story" ganz bestimmt nicht. Zwar kommen sowohl Nora als auch Bert als Personen durchaus freundlich herüber (selbst der von Ray Liotta verkörperte "Bluthund" Jay, der für Charlie eine mögliche aggressive Alternative zum eher großväterlichen Bert darstellt, ist in seiner Direktheit kein echtes Ekel), sie verkomplizieren die Angelegenheit aber immer weiter und schüren die zunehmenden Differenzen zwischen Charlie und Nicole. Wobei da das kalifornische Scheidungsrecht mit einigen (hier klar Charlie benachteiligenden) Eigenheiten und teilweise für beide Parteien demütigenden Vorschriften kräftig hineinspielt und den Spielraum der Anwälte einschränkt.

Immerhin: Aus der Sicht des Zuschauers führen diese äußeren Umstände zu einigen brillanten Szenen, wenn es etwa nach der Eskalation vor Gericht zur zentralen und lange nachhallenden Sequenz des Films kommt: Nicole und Charlie wollen sich unter vier Augen aussprechen und einen gangbaren Weg aus der Misere finden – der Versuch endet jedoch in Verzweiflung und Tränen. Sowohl Scarlett Johansson als auch Adam Driver zählen seit vielen Jahren zu meinen Lieblingsschauspielern, wobei mich vor allem Driver in der letzten Zeit mit den Rollen in "Logan Lucky", "BlacKkKlansman", "The Dead Don't Die" oder "The Report" immer stärker beeindruckt hat. Doch in "Marriage Story" erreichen beide noch einmal ein ganz neues schauspielerisches Niveau. Johanssons Interpretation von Nicole als eher zurückhaltende, fürsorgliche, aber auch deutlich frustrierte und beinahe trotzig um ihre Selbstbestimmung kämpfende Mutter mag nicht ganz so spektakulär wirken wie Drivers verzweifelter und mental erschöpfter Charlie, doch beide sind eine Wucht – und das ganz besonders in ihren gemeinsamen Szenen. Es ist erstaunlich, wie authentisch Baumbach das Bild einer Ehe vermittelt, die sich für die Ehepartner aus den verschiedensten nachvollziehbaren Gründen dermaßen unterschiedlich entwickelt hat, daß ihr Auseinanderbrechen für die Eine wie eine Befreiung ist und sich gleichzeitig für den Anderen wie die Zerstörung seines ganzen Lebens anfühlt. Auch dafür hat Noah Baumbach übrigens ein grandioses Bild gefunden, indem er gegen Ende nacheinander zuerst Nicole und dann Charlie ein Lied aus dem Musical "Company" von Stephen Sondheim singen läßt: Bei Nicole ist es (gemeinsam mit Mutter und Schwester) das fröhlich-alberne "You Could Drive a Person Crazy", bei Charlie die herzzerreißend melancholische (von Driver gerade deshalb, weil er nicht jede Note genau trifft, ungemein intensiv und leidenschaftlich vorgetragene) Ballade "Being Alive" – ein schmerzhafter Kontrast, der mehr aussagt als 1000 Worte (wobei die Dialoge wohlgemerkt trotzdem sehr überzeugend geschrieben sind). Daß "Marriage Story" einen als Zuschauer nie mit der Last der unschönen Thematik niederdrückt, liegt neben der Tatsache, daß man Charlie und Nicole trotz ihrer Fehler mögen kann, auch daran, daß Baumbach erstaunlich viel Humor in den Film einflicht. Dieser speist sich teilweise aus der puren Absurdität einiger Elemente des Scheidungs-Prozederes, teilweise aus amüsanten Nebenfiguren wie dem von Wallace Shawn ("Manhattan") verschmitzt verkörperten Theaterschauspieler Frank oder Nicoles sympathisch verpeilter Familie. Gekonnt untermalt wird alles von der behutsamen und verspielt-gefühlvollen Musik von Randy Newman ("Toy Story"), die sich niemals in den Vordergrund drängt. Alles in allem ist "Marriage Story" ein verdammt guter, einsichtsreicher, unterhaltsamer und letztlich sogar versöhnlicher Film über ein denkbar unangenehmes Thema geworden, aus dem man (auch als Single) viel Lernen kann. Mit anderen Worten: ein Meisterwerk!

Fazit: "Marriage Story" ist ein brillant geschriebenes, überragend gespieltes Scheidungsdrama, das seine schwere Thematik ernsthaft und ehrlich behandelt und dabei sogar bemerkenswert unterhaltsam geraten ist.

Wertung: Gut 9 Punkte.

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