Vor vielen Jahren habe ich einmal eine Statistik über die erfolgreichsten Schauspieler in den französischen Kinos gesehen, gemessen an den Gesamt-Zuschauerzahlen. Leider finde ich diese Statistik nicht mehr, aber auf den Spitzenpositionen befanden sich u.a. der hierzulande nicht ganz so bekannte Komiker Bourvil, Lino Ventura, Louis de Funès, Alain Delon ... und Jean-Paul Belmondo. Man kann gut und gerne sagen, daß dieses Quintett dem französischen Kino der 1960er bis 1980er Jahre ein Gesicht gab, respektive fünf Gesichter; und es ist vielleicht auch bezeichnend, daß der einzige von ihnen, der ein im klassischen Sinne schönes Gesicht hatte, Delon war. Auf Bourvil, Ventura, de Funès und Belmondo traf wohl eher die Kategorisierung als "Charakterköpfe" zu - sie wurden nicht in erster Linie aufgrund ihres Äußeren zu Ikonen des europäischen Kinos, sondern aufgrund ihres Talents, ihres Charismas und ihrer harten Arbeit (wobei all das natürlich ebenso auf Delon zutrifft). Bourvil, Lino Ventura und Louis de Funès sind schon lange tot, doch die 15 bis 20 Jahre jüngeren Alain Delon und Jean-Paul Belmondo hielten lange die Flagge ihrer Schauspieler-Generation hoch - nun bleibt nur noch Delon übrig, denn Jean-Paul Belmondo starb vorgestern mit 88 Jahren in Paris und stürzte eine ganze Nation, wenn nicht einen ganzen Kontinent in Trauer - aber auch in nostalgische Erinnerungen an die zahlreichen Filmklassiker, die er prägte.
Der Einwanderersohn Belmondo (sein Nachname verrät die italienischen Wurzeln, sein Vater wurde allerdings in Algerien geboren, das damals noch eine französische Kolonie war) versuchte sich nach der Schule zunächst als Boxer - so erwarb er seine charakteristische gebrochene Nase -, ehe er sich mit Mitte 20 dazu entschied, Schauspieler zu werden. Nach einigen ersten Rollen Ende der 1950er Jahre feierte er seinen Durchbruch bereits 1960 mit einem der wohl prägendsten und wegweisendsten Filme der Kinohistorie: Jean-Luc Godards "Außer Atem". Ähnlich wie in Deutschland war auch das französische Nachkriegskino zunächst von eher belanglosen Unterhaltungsfilmen dominiert worden, doch während das deutsche Kino diese gewisse Bräsigkeit nur langsam überwand, gelang das den Franzosen mit einem Schlag, dessen Widerhall selbst in Hollywood zu spüren war: Gemeinsam mit François Truffauts ein Jahr vorher veröffentlichtem "Sie küßten und sie schlugen ihn" markierte "Außer Atem" den Beginn der "Nouvelle Vague", einer von früheren Filmkritikern und Intellektuellen gegründeten Bewegung, die auf anspruchsvolles Autorenkino und auf künstlerische Experimente abseits der bisherigen Normen setzte und damit die Sehgewohnheiten des Publikums offensiv herausforderte (und damit auch die etwa eine Dekade später folgende Erneuerung Hollywoods durch das "New Hollywood" inspirierte). Der in schwarzweiß gedrehte und von den großen amerikanischen Film noirs inspirierte "Außer Atem" gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Nouvelle Vague, und Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo ist in seiner ikonischen Rolle als unglamouröser kleinkrimineller Antiheld Michel an der Seite der US-Schauspielerin Jean Seberg ein wichtiger Grund dafür.
In den 1960er Jahren drehte Belmondo einige weitere Nouvelle Vague-Filme, allen voran Godards Klassiker "Elf Uhr nachts" (1964), doch generell arbeitete er wie ein Verrückter (fast 30 Filme in fünf Jahren!) und etablierte sich somit auch in anderen Genres und Rollentypen. Beispielhaft seien genannt Claude Sautets Gangsterfilm "Der Panther wird gehetzt" (1960) neben Lino Ventura, Vittorio de Sicas erschütterndes Zweiter Weltkriegs-Melodram "... und dennoch leben sie" (1960) an der Seite von Sophia Loren, Godards Liebeskomödie "Eine Frau ist eine Frau" (1961) mit Anna Karina, Réné Clements international besetzter Kriegsfilm "Brennt Paris?" (1966), Truffauts Liebesdrama "Das Geheimnis der falschen Braut" (1969; Vorlage des Angelina Jolie-Films "Original Sin" von 2001) mit Catherine Deneuve und Jacques Derays Gaunerkomödie "Borsalino" (1970) mit Alain Delon. Dazu entwickelten sich fruchtbare längerfristige Zusammenarbeiten Belmondos mit einigen weiteren großen Filmemachern: So realisierte Belmondo mit Jean-Pierre Melville u.a. das Drama "Eva und der Priester" (1961), in dem er einen Pfarrer spielt, der sich von einer überzeugten Atheistin (Emmanuelle Riva) in theologische Debatten verwickeln läßt, und den meisterhaften Krimi "Der Teufel mit der weißen Weste" (1963). Mit Henri Verneuil drehte er die Tragikomödie "Ein Affe im Winter" (1962), das Kriegsdrama "Dünkirchen, 2. Juni 1940" (1964) und den Abenteuerfilm "100.000 Dollar in der Sonne" (1964, erneut als Co-Star von Lino Ventura). Und für Phillipe de Broca wurde Belmondo zuerst in der Abenteuerkomödie "Cartouche, der Bandit" zum schlitzohrigen Mantel-und-Degen-Helden, dann mit dem enorm unterhaltsamen "Abenteuer in Rio" (1964) zum international gefeierten Actionhelden mit komischem Talent, das er auch als suizidaler Millionär in de Brocas "Die tollen Abenteuer des Monsieur L." (1965) ausleben konnte. Mit anderen Worten: Jean-Paul Belmondo war überall, begeisterte in den verschiedensten Rollen (wobei sich bereits ein Faible für Action- und Abenteuerkomödien abzeichnete) und weil er so viel drehte, fielen die durchaus vorhandenen Flops neben den vielen Hits kaum ins Gewicht.
Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schraubte Belmondo sein Drehpensum deutlich zurück, in den 1970er Jahren drehte er "nur" noch ein bis zwei Filme pro Jahr. Seine Variabilität in der Rollenauswahl ließ erkennbar nach: Dramen rückten in den Hintergrund, stattdessen dominierten jene Komödien und actionreichen Abenteuerfilme, in denen er am erfolgreichsten war - zumal er inzwischen mit seinem Bruder seine eigene Produktionsfirma gegründet hatte und somit zusätzlich von Kassenerfolgen profitierte (aber umgekehrt natürlich auch darauf angewiesen war). Belmondo bestand stets darauf, auch gefährliche Stunts selbst zu absolvieren, was seiner Glaubwürdigkeit beim Publikum sicherlich zugute kam. Die Taktik ging jedenfalls auf, denn die Zuschauer strömten für diese Filme nur so in die Kinos, in Deutschland beispielsweise erreichte er in den 1970er und frühen 1980er Jahren die meisten Zuschauer, oft war es ein Millionen-Publikum (die Kritiker waren dafür nicht immer begeistert). Für Jean-Paul Rappeneaus vergnüglichen "Musketier mit Hieb und Stich" (1971) packte Belmondo noch einmal den Degen aus, doch ansonsten sollten Schußwaffen seine Arbeit in dieser Dekade dominieren, wobei die Handlung ihn gerne durch die halbe Welt führte. So auch in de Brocas "La Magnifique - Ich bin der Größte" (1973), in dem Belmondo einen wenig erfolgreichen Schriftsteller spielt, der sich in seinen Gedanken als Held in haarsträubenden Abenteuern inszeniert, in Philippe Labros Actionfilm "Der Greifer" (1976) oder meinem persönlichen Lieblings-Belmondo-Film, Georges Lautners atemberaubenden und ziemlich brutalen Spionage-Thriller "Der Profi" (1981) mit der genialen Musik von Ennio Morricone. "Der Profi" war in Deutschland übrigens Belmondos zweiterfolgreichster Film mit über drei Millionen Kinogängern, übertroffen nur von de Brocas Komödie "Der Unverbesserliche" aus dem Jahr 1975 (über vier Millionen), in der er den charmanten, aber unverbesserlichen Kleinganoven Victor spielt, der sich in seine Bewährungshelferin verliebt - die dummerweise direkt über einem Museum wohnt; eine Versuchung, der Victor nicht lange widerstehen kann ...
Weitere Highlights aus dieser Zeit sind Henri Verneuils Heistfilm "Der Coup" (1972) mit Omar Sharif, José Giovannis unterschätztes Gangsterdrama "Der Mann aus Marseille" (1972) mit Claudia Cardinale, Verneuils Actionkrimi "Angst über der Stadt" (1975, wiederum mit einem tollen Morricone-Soundtrack), Claude Zidis Komödie "Ein irrer Typ" (1977, in einer Doppelrolle als hochnäsiger Schauspieler und dessen vom Unglück verfolgtes Stuntdouble) mit Raquel Welch, Lautners Krimi "Der Windhund" (1979), die Komödie "Der Puppenspieler" (1980, ebenfalls von Lautner), die während der Olympischen Spiele in Berlin spielende Sport-Tragikomödie "Das As der Asse" (1982) und die Komödie "Fröhliche Ostern" (1984, mit der 17-jährigen Sophie Marceau in einer ihrer ersten Hauptrollen). Einen letzten größeren Kassenerfolg feierte Belmondo 1985 mit der Gaunerkomödie "Der Boß", in dem er und seine Bande als Clowns verkleidet eine Bank überfallen. Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre machte sich Jean-Paul Belmondo rarer, für einen Actionhelden war er nun wohl einfach zu alt und wurde vom Publikum nicht mehr wirklich angenommen. Ein paar gute Filme drehte er trotzdem noch, allen voran zwei Regiearbeiten von Claude Lelouch: Für seine Rolle in dem Rührstück "Der Löwe" (1988) gewann er sogar seinen einzigen César, sieben Jahre später folgte die exzellente und mit einem Golden Globe gekrönte freie Adaption von Victor Hugos Dauerbrenner "Les Misérables", die weitgehend während des Zweiten Weltkrieges angesiedelt ist. Nach einem Schlaganfall im Jahr 2001, der ihn körperlich beeinträchtigte, zog sich Belmondo scheinbar endgültig aus dem Filmgeschäft und generell aus der Öffentlichkeit zurück - abgesehen von einem kurzzeitigen Comeback in der Hauptrolle von Francis Husters "Ein Mann und sein Hund" (2008), einem allerdings nur mittelmäßigem Remake von Vittorio de Sicas neorealistischem Klassiker "Umberto D." von 1952.
Am 6. September 2021 starb Jean-Paul Belmondo im Alter von 88 Jahren in Paris eines natürlichen Todes. R.I.P.
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Lautners Krimi "Der Windhund" (1979) ?
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