Regie: Ava DuVernay, Drehbuch: Paul Webb
Darsteller:
David Oyelowo, Tom Wilkinson, Carmen Ejogo, André Holland, Tim Roth, Stephan
James, Tessa Thompson, Giovanni Ribisi, Colman Domingo, Omar Dorsey, Wendell
Pierce, Dylan Baker, Cuba Gooding Jr., Common, Alessandro Nivola, Lorraine
Toussaint, Nigél Thatch, Stan Houston, Ruben Santiago-Hudson,
Niecy Nash, LaKeith Stanfield, Ledisi Young, Jeremy Strong, Tara Ochs, E. Roger
Mitchell, Oprah Winfrey, Martin Sheen, Stephen Root
Die USA Mitte der 1960er Jahre: Unter den Präsidenten
Kennedy und Johnson (Tom Wilkinson, "Michael Clayton") hat die
schwarze Bürgerrechtsbewegung wichtige Erfolge feiern können, doch echte
Gleichberechtigung ist noch immer weit entfernt. Ganz besonders gilt das für
die Südstaaten, in denen die neuen Gesetze und Vorschriften häufig von den
weißen Politikern und Beamten nach Herzenslust ignoriert oder umgangen werden.
Ein Musterbeispiel dafür ist die Kleinstadt Selma in Alabama, in der die
schwarze Bevölkerungsmehrheit sehr hartnäckig durch albernste Anforderungen für die
Eintragung in das Wählerregister ("Nennen Sie die Namen aller 67
Amtsrichter in Alabama!") davon abgehalten wird, ihr durch Johnsons
"Voting Rights Act" garantiertes Wahlrecht auszuüben. Zusätzlich zu
den lokalen, bislang fruchtlosen Protesten wird daher der erst kurz zuvor mit dem
Friedensnobelpreis geehrte Anführer der gewaltlosen Protestbewegung nach Selma
eingeladen: Dr. Martin Luther King (David Oyelowo, "Der Butler").
Obwohl sich nicht alle vor Ort einig über das genaue weitere Vorgehen sind, soll
schließlich ein Protestmarsch von Selma in die Landeshauptstadt
Montgomery für mediale Aufmerksamkeit und damit auch politischen Druck sorgen.
Gouverneur Wallace (Tim Roth, "Pulp Fiction") und der Sheriff von
Selma, Jim Clark (Stan Houston, "Devil's Knot"), wollen das aber mit aller
Macht verhindern …
Kritik:
In den USA hat "Selma" gleich mehrere erbittert
geführte Debatten ausgelöst. Die haben jedoch nur bedingt mit dem Inhalt zu
tun, sondern größtenteils mit der Rezeption in der Öffentlichkeit. Zwar gab es
auch inhaltliche Diskussionen – so wird Präsident Johnson, generell als
großer Förderer der Gleichberechtigung betrachtet, relativ negativ dargestellt, was
für viel Widerspruch sorgte –, interessanter schien den Medien jedoch die
Tatsache zu sein, daß "Selma" trotz herausragend positiver Kritiken
bei den Preisverleihungen innerhalb der Filmindustrie ziemlich schlecht abschnitt. Vor
allem die nur zwei OSCAR-Nominierungen (als Bester Film und für den Filmsong,
der letztlich sogar ausgezeichnet wurde) sorgten für Empörung, zumal nicht nur
wieder einmal eine Diskriminierung der Schwarzen (anhand der in der Tat
ungerechtfertigten Nicht-Nominierung des Hauptdarstellers David Oyelowo)
vermutet wurde, sondern auch noch der Frauen in der Branche – denn Regie führte
mit der bis dahin im Independent-Bereich tätigen Ava DuVernay ("Middle of
Nowhere") eine schwarze Frau. Inwiefern hier tatsächlich Rassismus oder
vielleicht auch einfach "nur" die Aversion der "alten weißen
Männer", die die Academy zahlenmäßig noch immer dominieren, im Spiel war, wage ich
nicht zu beurteilen; schließlich gibt es durchaus andere Erklärungsansätze wie
den, daß "Selma" als letzter unter den großen OSCAR-Anwärtern des Jahres
fertig wurde und deshalb erst richtig Fahrt aufnehmen konnte, als die Awards
Season schon zur Hälfte absolviert war (zumal auch die PR-Bemühungen des Studios
nicht überragend waren). Fakt ist jedenfalls, daß es schade ist, daß
"Selma" in der medialen Betrachtung zu oft auf diese
"Nebengeräusche" reduziert wurde, obwohl es ein zwar eher
konventionell inszeniertes, aber definitiv mit erkennbarer Hingabe erzähltes Stück
Kino zu einer wichtigen gesellschaftlichen Thematik ist.
Wie aktuell das Thema der Diskriminierung schwarzer Bürger
in den USA noch immer ist, mußte die Welt nur wenige Monate vor dem Kinostart
von "Selma" in der Kleinstadt Ferguson in Missouri miterleben. Der
Tod eines unbewaffneten schwarzen Teenagers durch einen weißen Polizisten
sorgte dort und in anderen US-Städten für Massenproteste, deren Berechtigung im
März 2015 durch einen offiziellen Bericht des Justizministeriums bestätigt
wurde, in dem eine routinemäßige Diskriminierung der schwarzen
Bevölkerungsmehrheit in Ferguson durch die überwiegend weiße Polizei
festgestellt wurde. Die Parallelen zu Selma sind offensichtlich und
besorgniserregend, wenngleich das Ausmaß der Diskriminierung natürlich deutlich
geringer geworden ist. Dennoch wird einem wieder einmal bewußt, daß der Kampf um wahrhaftige Gleichberechtigung (nicht nur, was die Afroamerikaner in den USA betrifft) noch
lange nicht gewonnen ist – daß aber gleichzeitig die Fortschritte doch
beträchtlich sind. Denn wenn man wie ich damals noch nicht geboren war, dann
ist und bleibt es unfaßbar, mit welcher Brutalität, Skrupellosigkeit und selbstgerechter Überzeugung die weißen "Eliten" in den
amerikanischen Südstaaten noch vor 50 Jahren gegen Mitbürger vorgegangen sind,
die gar nicht mehr wollten, als ihre verfassungsmäßigen Rechte auszuüben und
wie normale, gleichwertige Menschen behandelt zu werden. Alleine diese
historische Dimension sorgt dafür, daß man als aufgeklärter (und theoretisch
auch über die Geschichte der Bürgerrechte in den USA informierter) Mensch nur
fassungslos zuschauen kann, wenn "Selma" lobenswerterweise ohne eine übermäßig
emotionalisierte Dramatisierung der historischen Geschehnisse einfach nur abbildet,
was Mitte der 1960er Jahre geschah.
Genau in diesen Szenen entfaltet DuVernays Film seine großen Stärken. "Selma" ist immer dann spannend bis
mitreißend, wenn es konkret um den Kampf um die Gleichberechtigung geht – erhellend sind vor allem die Strategiebesprechungen auf beiden Seiten. Leider wagt es das Drehbuch des britischen Theater-Schriftstellers Paul
Webb ("Selma" stellt sein Film-Debüt dar) nicht, sich ganz auf diesen
Aspekt zu konzentrieren, sondern bringt auch Martin Luther Kings Privatleben
ins Spiel. Die Intention dahinter ist leicht zu erkennen: Indem
"Selma" Kings Eheprobleme mit seiner Frau Coretta (Carmen Ejogo, "Alex Cross") und
seine Seitensprünge in die Handlung einbindet, soll von vornherein dem
potentiellen Vorwurf einseitiger Verherrlichung des
Friedensnobelpreisträgers der Wind aus den Segeln genommen werden. Das ist
durchaus nachvollziehbar, dramaturgisch aber eher störend. Vor allem zu Beginn
nimmt Kings Privatleben für meinen Geschmack zu großen Raum ein. Nach
einem effektiven Prolog, der das zentrale Leitmotiv des Gegensatzes zwischen
friedlichen Protesten und zügelloser, fanatischer Gewalt auf das
Vortrefflichste etabliert, läßt es "Selma" erst einmal ruhig angehen.
Rund 20 Minuten lang verbringt der Film damit, King und seine engsten
Mitstreiter dem Publikum nahezubringen, was aber leider ziemlich einfallslos
und damit tendentiell langweilig vonstatten geht.
Erst nach Kings Ankunft in Selma und den ersten
Diskussionen über das weitere Vorgehen wird es richtig interessant. Besonders
spannend sind dabei die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der schwarzen
Gemeinde, die sich zwar hinsichtlich des Ziels natürlich einig sind, bezüglich der Mittel zur Erreichung dieses Ziels allerdings absolut nicht. Diesen Aspekt
hätte "Selma" ruhig noch stärker ausgestalten können, so wirkt
beispielsweise das Auftreten von Kings großem Gegenspieler innerhalb der
Bürgerrechtsbewegung – dem die Devise "Wenn nötig, dann setzen wir auch
auf Gewalt!" vertretenden Malcolm X (Nigél Thatch) – in nur einer Szene
eher alibihaft und dramaturgisch unelegant. Das gilt übrigens auch für weitere kurze
"Gastauftritte" historischer Persönlichkeiten wie des FBI-Chefs J.
Edgar Hoover (Dylan Baker, "Trick 'r Treat") oder der berühmten Gospel-Sängerin Mahalia Jackson (Ledisi
Young). Eine intensive Figurenzeichnung ist so natürlich nicht möglich, die
beschränkt sich vorwiegend auf King selbst, der von David Oyelowo
leidenschaftlich und authentisch proträtiert wird. Aus dem übrigen Ensemble
sticht besonders Andre Holland ("Black or White") hervor, der den jungen Aktivisten Andrew Young
verkörpert – und natürlich macht Schauspielveteran Tom Wilkinson das Beste aus
seiner Rolle als Präsident Johnson. Daß dessen Darstellung nicht unumstritten
ist, hatte ich ja bereits eingangs erwähnt – doch obwohl ich kein Historiker
bin, halte ich sie für durchaus gelungen. Ob es in der Realität tatsächlich so
war, kann ich nicht sagen, innerhalb des Films wirkt es jedenfalls absolut glaubwürdig,
daß Johnson – dessen Verdienste für die Bürgerrechtsbewegung unbestritten sind
und in "Selma" keineswegs verschwiegen werden – eher aus politischen
Motiven agiert als aus absoluter moralischer Überzeugung.
Doch letztlich sind das alles sowieso nur Nebengeräusche,
denn primär konzentriert sich der übrigens von Brad Pitt und Oprah Winfrey (die
auch eine kleine Rolle spielt) co-produzierte "Selma" auf Martin Luther King
und den Marsch von Selma. Letzterer ist grundsätzlich sehr gut und beklemmend
umgesetzt – wie bereits angedeutet, ist die Wirkung des brutalen Vorgehens der
Polizei erheblich, man fiebert mit den friedlichen Demonstranten mit und
verspürt starke Wut gegen die Polizisten und den offen rassistischen und von
Tim Roth schön hassenswert gespielten Gouverneur Wallace (der übrigens – aus heutiger
Sicht unfaßbar – den Demokraten angehörte). Immerhin sorgt das Gezeigte aber
auch für Hoffnungsschimmer, schließlich reagiert nicht nur das heutige
Kinopublikum empört auf die Geschehnisse; damals schlossen sich
als direkte Reaktion auf die polizeilichen Übergriffe zahllosse Weiße aus dem ganzen Land der
Protestbewegung an, was die Universalität des Strebens nach Gleichberechtigung betont. Was die Inszenierung betrifft, finde ich es derweil allerdings etwas fragwürdig,
daß das brutale Niederschlagen des Protestmarsches auf der Edmund Pettus-Brücke
durch einen Gospelsong unterlegt wird (einen klassischen Filmscore gibt es in
"Selma" sowieso nicht); ich hätte es da bevorzugt, wenn die Filmemacher voll und ganz
auf die Kraft der Bilder (und der Schilderung des CBS-Kommentators im
US-Fernsehen) gesetzt hätten. Auffällig ist zudem, daß man für die weißen
Rassisten bis auf wenige Ausnahmen (allen voran Tim Roth) möglichst fies
aussehende Typen besetzt hat. Das ist fast schon wieder kontraproduktiv,
schließlich lebte und lebt der Rassismus – wie alle "erfolgreichen"
fanatischen Strömungen – doch gerade davon, daß er auch von der berühmt-berüchtigten
"Mitte der Gesellschaft" getragen wird und nicht nur von den
erklärten Extremisten. Daß das auch in Selma der Fall war, kann man übrigens
gut anhand der historischen Aufnahmen nachvollziehen, die am Ende des Films
gezeigt werden.
Fazit: "Selma" ist ein leidenschaftliches,
immer noch allzu aktuelles Bürgerrechtsdrama, das seine großen Stärken dann entfaltet, wenn es sich auf das zentrale Thema des gewaltlosen
Kampfes gegen Diskriminierung konzentriert – die (glücklicherweise nicht
überstrapazierten) persönlichen Zwischentöne rund um Dr. Martin Luther Kings
unperfektes Familienleben wirken dagegen eher alibihaft als zielführend und
sorgen für Abzüge in der B-Note.
Wertung: 8 Punkte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen