Dienstag, 17. März 2015

SELMA (2014)

Regie: Ava DuVernay, Drehbuch: Paul Webb
Darsteller: David Oyelowo, Tom Wilkinson, Carmen Ejogo, André Holland, Tim Roth, Stephan James, Tessa Thompson, Giovanni Ribisi, Colman Domingo, Omar Dorsey, Wendell Pierce, Dylan Baker, Cuba Gooding Jr., Common, Alessandro Nivola, Lorraine Toussaint, Nigél Thatch, Stan Houston, Ruben Santiago-Hudson, Niecy Nash, LaKeith Stanfield, Ledisi Young, Jeremy Strong, Tara Ochs, E. Roger Mitchell, Oprah Winfrey, Martin Sheen, Stephen Root
Selma
(2014) on IMDb Rotten Tomatoes: 99% (8,5); weltweites Einspielergebnis: $67,8 Mio.
FSK: 12, Dauer: 128 Minuten.

Die USA Mitte der 1960er Jahre: Unter den Präsidenten Kennedy und Johnson (Tom Wilkinson, "Michael Clayton") hat die schwarze Bürgerrechtsbewegung wichtige Erfolge feiern können, doch echte Gleichberechtigung ist noch immer weit entfernt. Ganz besonders gilt das für die Südstaaten, in denen die neuen Gesetze und Vorschriften häufig von den weißen Politikern und Beamten nach Herzenslust ignoriert oder umgangen werden. Ein Musterbeispiel dafür ist die Kleinstadt Selma in Alabama, in der die schwarze Bevölkerungsmehrheit sehr hartnäckig durch albernste Anforderungen für die Eintragung in das Wählerregister ("Nennen Sie die Namen aller 67 Amtsrichter in Alabama!") davon abgehalten wird, ihr durch Johnsons "Voting Rights Act" garantiertes Wahlrecht auszuüben. Zusätzlich zu den lokalen, bislang fruchtlosen Protesten wird daher der erst kurz zuvor mit dem Friedensnobelpreis geehrte Anführer der gewaltlosen Protestbewegung nach Selma eingeladen: Dr. Martin Luther King (David Oyelowo, "Der Butler"). Obwohl sich nicht alle vor Ort einig über das genaue weitere Vorgehen sind, soll schließlich ein Protestmarsch von Selma in die Landeshauptstadt Montgomery für mediale Aufmerksamkeit und damit auch politischen Druck sorgen. Gouverneur Wallace (Tim Roth, "Pulp Fiction") und der Sheriff von Selma, Jim Clark (Stan Houston, "Devil's Knot"), wollen das aber mit aller Macht verhindern …

Kritik:
In den USA hat "Selma" gleich mehrere erbittert geführte Debatten ausgelöst. Die haben jedoch nur bedingt mit dem Inhalt zu tun, sondern größtenteils mit der Rezeption in der Öffentlichkeit. Zwar gab es auch inhaltliche Diskussionen – so wird Präsident Johnson, generell als großer Förderer der Gleichberechtigung betrachtet, relativ negativ dargestellt, was für viel Widerspruch sorgte –, interessanter schien den Medien jedoch die Tatsache zu sein, daß "Selma" trotz herausragend positiver Kritiken bei den Preisverleihungen innerhalb der Filmindustrie ziemlich schlecht abschnitt. Vor allem die nur zwei OSCAR-Nominierungen (als Bester Film und für den Filmsong, der letztlich sogar ausgezeichnet wurde) sorgten für Empörung, zumal nicht nur wieder einmal eine Diskriminierung der Schwarzen (anhand der in der Tat ungerechtfertigten Nicht-Nominierung des Hauptdarstellers David Oyelowo) vermutet wurde, sondern auch noch der Frauen in der Branche – denn Regie führte mit der bis dahin im Independent-Bereich tätigen Ava DuVernay ("Middle of Nowhere") eine schwarze Frau. Inwiefern hier tatsächlich Rassismus oder vielleicht auch einfach "nur" die Aversion der "alten weißen Männer", die die Academy zahlenmäßig noch immer dominieren, im Spiel war, wage ich nicht zu beurteilen; schließlich gibt es durchaus andere Erklärungsansätze wie den, daß "Selma" als letzter unter den großen OSCAR-Anwärtern des Jahres fertig wurde und deshalb erst richtig Fahrt aufnehmen konnte, als die Awards Season schon zur Hälfte absolviert war (zumal auch die PR-Bemühungen des Studios nicht überragend waren). Fakt ist jedenfalls, daß es schade ist, daß "Selma" in der medialen Betrachtung zu oft auf diese "Nebengeräusche" reduziert wurde, obwohl es ein zwar eher konventionell inszeniertes, aber definitiv mit erkennbarer Hingabe erzähltes Stück Kino zu einer wichtigen gesellschaftlichen Thematik ist.

Wie aktuell das Thema der Diskriminierung schwarzer Bürger in den USA noch immer ist, mußte die Welt nur wenige Monate vor dem Kinostart von "Selma" in der Kleinstadt Ferguson in Missouri miterleben. Der Tod eines unbewaffneten schwarzen Teenagers durch einen weißen Polizisten sorgte dort und in anderen US-Städten für Massenproteste, deren Berechtigung im März 2015 durch einen offiziellen Bericht des Justizministeriums bestätigt wurde, in dem eine routinemäßige Diskriminierung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit in Ferguson durch die überwiegend weiße Polizei festgestellt wurde. Die Parallelen zu Selma sind offensichtlich und besorgniserregend, wenngleich das Ausmaß der Diskriminierung natürlich deutlich geringer geworden ist. Dennoch wird einem wieder einmal bewußt, daß der Kampf um wahrhaftige Gleichberechtigung (nicht nur, was die Afroamerikaner in den USA betrifft) noch lange nicht gewonnen ist – daß aber gleichzeitig die Fortschritte doch beträchtlich sind. Denn wenn man wie ich damals noch nicht geboren war, dann ist und bleibt es unfaßbar, mit welcher Brutalität, Skrupellosigkeit und selbstgerechter Überzeugung die weißen "Eliten" in den amerikanischen Südstaaten noch vor 50 Jahren gegen Mitbürger vorgegangen sind, die gar nicht mehr wollten, als ihre verfassungsmäßigen Rechte auszuüben und wie normale, gleichwertige Menschen behandelt zu werden. Alleine diese historische Dimension sorgt dafür, daß man als aufgeklärter (und theoretisch auch über die Geschichte der Bürgerrechte in den USA informierter) Mensch nur fassungslos zuschauen kann, wenn "Selma" lobenswerterweise ohne eine übermäßig emotionalisierte Dramatisierung der historischen Geschehnisse einfach nur abbildet, was Mitte der 1960er Jahre geschah.

Genau in diesen Szenen entfaltet DuVernays Film seine großen Stärken. "Selma" ist immer dann spannend bis mitreißend, wenn es konkret um den Kampf um die Gleichberechtigung geht – erhellend sind vor allem die Strategiebesprechungen auf beiden Seiten. Leider wagt es das Drehbuch des britischen Theater-Schriftstellers Paul Webb ("Selma" stellt sein Film-Debüt dar) nicht, sich ganz auf diesen Aspekt zu konzentrieren, sondern bringt auch Martin Luther Kings Privatleben ins Spiel. Die Intention dahinter ist leicht zu erkennen: Indem "Selma" Kings Eheprobleme mit seiner Frau Coretta (Carmen Ejogo, "Alex Cross") und seine Seitensprünge in die Handlung einbindet, soll von vornherein dem potentiellen Vorwurf einseitiger Verherrlichung des Friedensnobelpreisträgers der Wind aus den Segeln genommen werden. Das ist durchaus nachvollziehbar, dramaturgisch aber eher störend. Vor allem zu Beginn nimmt Kings Privatleben für meinen Geschmack zu großen Raum ein. Nach einem effektiven Prolog, der das zentrale Leitmotiv des Gegensatzes zwischen friedlichen Protesten und zügelloser, fanatischer Gewalt auf das Vortrefflichste etabliert, läßt es "Selma" erst einmal ruhig angehen. Rund 20 Minuten lang verbringt der Film damit, King und seine engsten Mitstreiter dem Publikum nahezubringen, was aber leider ziemlich einfallslos und damit tendentiell langweilig vonstatten geht.

Erst nach Kings Ankunft in Selma und den ersten Diskussionen über das weitere Vorgehen wird es richtig interessant. Besonders spannend sind dabei die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der schwarzen Gemeinde, die sich zwar hinsichtlich des Ziels natürlich einig sind, bezüglich der Mittel zur Erreichung dieses Ziels allerdings absolut nicht. Diesen Aspekt hätte "Selma" ruhig noch stärker ausgestalten können, so wirkt beispielsweise das Auftreten von Kings großem Gegenspieler innerhalb der Bürgerrechtsbewegung – dem die Devise "Wenn nötig, dann setzen wir auch auf Gewalt!" vertretenden Malcolm X (Nigél Thatch) – in nur einer Szene eher alibihaft und dramaturgisch unelegant. Das gilt übrigens auch für weitere kurze "Gastauftritte" historischer Persönlichkeiten wie des FBI-Chefs J. Edgar Hoover (Dylan Baker, "Trick 'r Treat") oder der berühmten Gospel-Sängerin Mahalia Jackson (Ledisi Young). Eine intensive Figurenzeichnung ist so natürlich nicht möglich, die beschränkt sich vorwiegend auf King selbst, der von David Oyelowo leidenschaftlich und authentisch proträtiert wird. Aus dem übrigen Ensemble sticht besonders Andre Holland ("Black or White") hervor, der den jungen Aktivisten Andrew Young verkörpert – und natürlich macht Schauspielveteran Tom Wilkinson das Beste aus seiner Rolle als Präsident Johnson. Daß dessen Darstellung nicht unumstritten ist, hatte ich ja bereits eingangs erwähnt – doch obwohl ich kein Historiker bin, halte ich sie für durchaus gelungen. Ob es in der Realität tatsächlich so war, kann ich nicht sagen, innerhalb des Films wirkt es jedenfalls absolut glaubwürdig, daß Johnson – dessen Verdienste für die Bürgerrechtsbewegung unbestritten sind und in "Selma" keineswegs verschwiegen werden – eher aus politischen Motiven agiert als aus absoluter moralischer Überzeugung.

Doch letztlich sind das alles sowieso nur Nebengeräusche, denn primär konzentriert sich der übrigens von Brad Pitt und Oprah Winfrey (die auch eine kleine Rolle spielt) co-produzierte "Selma" auf Martin Luther King und den Marsch von Selma. Letzterer ist grundsätzlich sehr gut und beklemmend umgesetzt – wie bereits angedeutet, ist die Wirkung des brutalen Vorgehens der Polizei erheblich, man fiebert mit den friedlichen Demonstranten mit und verspürt starke Wut gegen die Polizisten und den offen rassistischen und von Tim Roth schön hassenswert gespielten Gouverneur Wallace (der übrigens – aus heutiger Sicht unfaßbar – den Demokraten angehörte). Immerhin sorgt das Gezeigte aber auch für Hoffnungsschimmer, schließlich reagiert nicht nur das heutige Kinopublikum empört auf die Geschehnisse; damals schlossen sich als direkte Reaktion auf die polizeilichen Übergriffe zahllosse Weiße aus dem ganzen Land der Protestbewegung an, was die Universalität des Strebens nach Gleichberechtigung betont. Was die Inszenierung betrifft, finde ich es derweil allerdings etwas fragwürdig, daß das brutale Niederschlagen des Protestmarsches auf der Edmund Pettus-Brücke durch einen Gospelsong unterlegt wird (einen klassischen Filmscore gibt es in "Selma" sowieso nicht); ich hätte es da bevorzugt, wenn die Filmemacher voll und ganz auf die Kraft der Bilder (und der Schilderung des CBS-Kommentators im US-Fernsehen) gesetzt hätten. Auffällig ist zudem, daß man für die weißen Rassisten bis auf wenige Ausnahmen (allen voran Tim Roth) möglichst fies aussehende Typen besetzt hat. Das ist fast schon wieder kontraproduktiv, schließlich lebte und lebt der Rassismus – wie alle "erfolgreichen" fanatischen Strömungen – doch gerade davon, daß er auch von der berühmt-berüchtigten "Mitte der Gesellschaft" getragen wird und nicht nur von den erklärten Extremisten. Daß das auch in Selma der Fall war, kann man übrigens gut anhand der historischen Aufnahmen nachvollziehen, die am Ende des Films gezeigt werden.

Fazit: "Selma" ist ein leidenschaftliches, immer noch allzu aktuelles Bürgerrechtsdrama, das seine großen Stärken dann entfaltet, wenn es sich auf das zentrale Thema des gewaltlosen Kampfes gegen Diskriminierung konzentriert – die (glücklicherweise nicht überstrapazierten) persönlichen Zwischentöne rund um Dr. Martin Luther Kings unperfektes Familienleben wirken dagegen eher alibihaft als zielführend und sorgen für Abzüge in der B-Note.

Wertung: 8 Punkte.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen