Freitag, 1. April 2022

SEITENWECHSEL (2021)

Originaltitel: Passing
Regie und Drehbuch: Rebecca Hall, Musik: Devonté Hynes
Darsteller: Tessa Thompson, Ruth Negga, André Holland, Bill Camp, Alexander Skarsgård, Antoinette Crowe-Legacy, Gbenga Akinnagbe, Ashley Ware Jenkins
Seitenwechsel (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 90% (7,7); FSK: 12, Dauer: 98 Minuten.
New York, Ende der 1920er Jahre: Einst waren Irene Redfield (Tessa Thompson, "Thor 3") und Clare Bellew (Ruth Negga, "Ad Astra") Klassenkameradinnen, doch nach der Schule trennten sich die Wege der beiden Afroamerikanerinnen. Während Irene in Harlem blieb, den Arzt Brian (André Holland, "Moonlight") heiratete und mit ihm zwei Söhne bekam, zog Clare nach Chicago – wo sie sich aufgrund ihrer hellen Hautfarbe erfolgreich als Weiße ausgab und auf diese Weise gar den wohlhabenden, offen rassistischen John (Alexander Skarsgård, "Dirty Cops") ehelichte, mit dem sie eine Tochter hat (die zu ihrem Glück ebenfalls eine sehr helle Hautfarbe hat). Nun ziehen Clare und John wieder nach New York, wo sie zufällig auf Irene trifft, deren Haut einen ähnlich hellen Farbton hat und die daher ebenfalls manchmal von Fremden für eine weiße Frau gehalten wird. Obwohl Irene zutiefst irritiert bis angewidert ist von Clares Scharade, läßt sie ihre frühere Freundin aufgrund deren Hartnäckigkeit schließlich wieder in ihr Leben. Denn obwohl es Clare materiell gut geht, vermißt sie die afroamerikanische Gesellschaft und Kultur, aus der sie ausgebrochen ist, und Irene ist die einzige, mit der sie offen über ihre Situation sprechen kann. Obwohl sich die beiden ziemlich unterschiedlichen Frauen schnell wieder anfreunden, fühlt sich Irene doch zunehmend unwohl damit, wie sehr die glamouröse Clare die Rückkehr in ihr altes Leben genießt, wo sie bei den meisten von Irenes Freunden und sogar bei ihrem eigenen Mann und ihren Kindern sehr gut ankommt ...

Kritik:
Ich muß zugeben, ich war ein bißchen irritiert, als ich erstmals davon las, daß Schauspielerin Rebecca Hall ("Vicky Cristina Barcelona") ihr Regie- und Drehbuchdebüt mit einem Film über zwei afroamerikanische Frauen geben würde, deren (helle) Hautfarbe ein wichtiges Thema der Geschichte ist. Schließlich ist Hall weiß und ich (als weißer Mann) stelle es mir schwierig vor, wirklich angemessen in die Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen einzutauchen, die in unserer Gesellschaft aufgrund einer anderen Hautfarbe diskriminiert werden. Dann fand ich zu meiner großen Überraschung heraus, daß Rebecca Hall – die ich wie sicherlich die meisten Menschen stets ganz selbstverständlich für weiß gehalten hatte – selbst Enkeltochter eines Afroamerikaners ist. Wieder was dazugelernt und natürlich ergibt es vor diesem Hintergrund viel Sinn, daß Hall mit einer Geschichte, die ihrer eigenen zumindest ähnelt, ihr Debüt hinter der Kamera gibt. Und was soll ich sagen? Sie macht das ganz hervorragend! "Seitenwechsel", die von Netflix produzierte Verfilmung eines Romans von Nella Larsen aus dem Jahr 1929, ist ein betont und außerdem ausgesprochen kunstvoll altmodisch gefilmtes psychologisches Drama mit romantischen und Thriller-Elementen, das tief in die Psyche seiner beiden Protagonistinnen eintaucht, ihre komplizierten Erfahrungen und Gefühle authentisch vermittelt und mit seinem glänzend vorbereiteten Ende lange nachhallt. Eine echte Schande, daß dieses Kleinod bei den OSCARs komplett ignoriert wurde (bei den Golden Globes gab es eine verdiente Nominierung für Ruth Negga).

Die detailverliebte Hingabe, mit welcher Rebecca Hall das (Stummfilm-)Kino der 1920er Jahre wiederaufleben läßt, ist wahrlich beeindruckend. Sie hat ihren Film nicht nur in Schwarzweiß gedreht, sondern auch im seit dem Ende der Röhrenfernseher kaum noch verwendeten 4:3-Format. Außerdem kommt eine auffällig statische Kamera zum Einsatz, wie sie in den 1920er Jahren eben üblich war, was die Bilder noch mehr an Filme von Charles Chaplin, Harold Lloyd oder Buster Keaton erinnern läßt – nur ohne Slapstick. Gerade der ob der limitierten Anzahl unterschiedlicher Schauplätze häufig zu sehende Straßenzug mit Irenes Haus, das von einer auf der gegenüberliegenden Straßenseite fest installierten Kamera aus gezeigt wird, ist ein beredtes Beispiel für diese penibel eingefangene 1920er Jahre-Optik. Ganz nebenbei passen die eleganten Schwarzweißbilder natürlich gut zur Rassismus-Thematik von "Seitenwechsel" – und ironischerweise heißt der Kameramann, der diese formvollendeten Bilder abliefert, Eduard Grau ("A Single Man"). Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß "Seitenwechsel" sich etwas überraschend nicht als ausgesprochenes Rassismus-Drama entpuppt, jedenfalls nicht in erster Linie. Selbstredend spielen Rassismus und Vorurteile eine bedeutende Rolle, zumeist jedoch eher als Hintergrund (etwa durch Berichte über Lynchmorde an Schwarzen im Radio) für das raffiniert konstruierte und die Spannung gemächlich aufbauende psychologische Drama, das im Mittelpunkt steht. Dieses entwickelt sich dabei erfreulich unvorhersehbar und die titelgebende Prämisse ist eigentlich nur Ausgangspunkt für die Geschichte zweier zugleich ähnlicher und denkbar verschiedener Frauen, spielt ansonsten aber eher am Rande eine Rolle – was übrigens auch für Clares rassistischen Ehemann gilt, der scheinbar als großer Antagonist eingeführt wird, dann aber lange Zeit fast komplett verschwindet, während sich "Seitenwechsel" ganz auf Clares Wiedereinfügen in die afroamerikanische Community und Irenes Umgang damit fokussiert.

Weil die Geschichte sich so unerwartet entwickelt, will ich auf sie im Detail gar nicht so sehr eingehen, kann aber versichern, daß sie mich mit ihrem Facettenreichtum und den subtilen, klugen und präzisen Beobachtungen ziemlich begeistert hat. Dabei kontrastieren Hall und ihr Kameramann Grau die angesprochenen statischen Bilder aus dem Außenbereich mit intimen Nahaufnahmen in den Innenräumen, speziell in Irenes Haus und auf die Eigentümerin bezogen. Inhaltlich läßt Rebecca Hall dem Publikum viel Interpretationsspielraum, etwa bezüglich einer möglichen homoerotischen Spannung zwischen Irene und Clare (welche sehr auffällig von Irene schwärmt, wann immer sich die Möglichkeit ergibt) oder auch einer möglichen romantischen Anziehungskraft von Clare auf Irenes Ehemann Brian. Es wird viel angedeutet, aber nur wenig offen ausgesprochen oder gezeigt, und das bleibt bis zum Finale so, das viel Diskussionsstoff bietet. Filme mit vielen Andeutungen, aber ohne echte Erklärungen sind ja nicht jedermanns Sache und man kann es definitiv übertreiben, aber für mich hat Rebecca Hall hier eine nahezu perfekte Balance gefunden. Möglicherweise könnte "Seitenwechsel" in der ersten Hälfte etwas temporeicher erzählt sein, aber sonst habe ich nicht viel zu bemängeln. Auch schauspielerisch ist viel geboten, wobei vor allem die Hauptdarstellerinnen Tessa Thompson und Ruth Negga (die beide auch als Produzentinnen beteiligt sind) preisverdächtige Leistungen abliefern. Es ist, das läßt sich nicht anders sagen, ein beeindruckendes Debüt, das mich mit ehrlicher Neugierde auf weitere Filme oder Serien von Rebecca Hall warten läßt.

Abschließend möchte ich noch auf ein paar größere Probleme der deutschen Synchronfassung eingehen. Ich selbst habe mir "Seitenwechsel" in der Originalfassung angeschaut, war aber an einigen Stellen neugierig, wie sie das wohl übersetzt haben – und die gefundene Lösung ist in meinen Augen zu oft alles andere als ideal. Konkret leidet die Synchronfassung unter einem Übermaß an politischer Korrektheit. Im "echten Leben" bin ich ein großer Anhänger politischer Korrektheit, aber hier ist sie definitiv fehl am Platz – denn wenn ein Film erstens in den von offenem Rassismus geprägten USA der 1920er Jahre spielt und zweitens der Rassismus auch noch eine größere Rolle in der erzählten Story spielt, dann ist es dringend angeraten, sich an die historisch korrekten Begriffe zu halten. Das tut "Seitenwechsel" leider nicht und übersetzt die im Originalton verwendeten Begriffe "Negro", "Colored" und "Black" allesamt als "Schwarze" – damit opfert man nicht allein die historische der politischen Korrektheit, sondern enthält den Zuschauern der Synchronfassung zusätzlich die Facetten dieser ja keineswegs identischen Wörter vor und verfälscht das Gesagte letztlich. Dazu kommen weitere Übersetzungsfehler und Ungereimtheiten, von denen mir vor allem jene übel aufstieß, in der aus einer eher scherzhaften Beleidigung Irenes ihres weißen Schriftsteller-Freundes Hugh (Bill Camp, "Joker") als "ass" in der deutschen Fassung ein "Arsch" wird, obwohl das englische Wort auch "Esel" bedeutet. Und "Esel" war nicht nur in den 1920er Jahren die deutlich gebräuchlichere Bedeutung, sondern paßt auch viel besser zum freundschaftlichen Kontext, in dem das Wort geäußert wird sowie zu Halls betonter Hommage an die Filme jener Zeit (in den deutschen Untertiteln wird übrigens korrekterweise "Esel" übersetzt). Kurz gesagt: Wer über die entsprechenden Sprachkenntnisse verfügt, sollte sich ganz eindeutig die (gut verständliche) Originalfassung zu Gemüte ziehen!

Fazit: "Seitenwechsel" ist ein optisch wie inhaltlich beeindruckendes psychologisches 1920er Jahre-Drama mit eleganten Schwarzweiß-Bildern, einem raffinierten Storyverlauf und zwei groß aufspielenden Hauptdarstellerinnen.

Wertung: 8,5 Punkte.
 
 
 

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