Regie und Drehbuch: Paul Thomas Anderson, Musik: Jonny
Greenwood
Darsteller:
Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Katherine Waterston, Benicio del Toro, Owen Wilson, Reese Witherspoon,
Joanna Newsom, Martin Short, Maya Rudolph, Hong Chau, Eric
Roberts, Jena Malone, Martin Donovan, Sasha Pieterse, Peter McRobbie, Keith
Jardine, Jefferson Mays, Elaine Tan, Jeannie Berlin, Serena Scott Thomas,
Michael Kenneth Williams, Michelle Sinclair, Wilson Bethel, Anders Holm
FSK: 16, Dauer: 148 Minuten.
Los Angeles, 1970: Larry "Doc" Sportello (Joaquin
Phoenix, "Hotel Ruanda") ist Privatdetektiv und ein leidenschaftlicher
Kiffer. Man möchte meinen, daß Letzteres für Ersteres nicht gerade zuträglich
ist, doch tatsächlich hat er so einiges zu tun. Dafür, daß Doc in einen
ziemlichen Schlamassel gerät, der eigentlich mindestens eine Nummer zu groß für
ihn ist, ist primär seine Ex-Freundin Shasta (Katherine Waterston, "Taking
Woodstock") verantwortlich. Die informiert Doc nämlich darüber, daß sie
von der Frau ihres Geliebten – dem reichen Immobilientycoon Michael Z. Wolfmann
(Eric Roberts, "Express in die Hölle") – und deren Liebhaber
aufgefordert wurde, ihnen bei einem Komplott gegen Wolfmann zu helfen. Kurz
nachdem Doc dies erfahren hat, verschwinden sowohl Wolfmann als auch Shasta
scheinbar spurlos. Unterdessen erhält der Privatdetektiv weitere Aufträge, so
soll er beispielsweise im Auftrag dessen vermeintlicher
Witwe (Jena Malone, "Die Tribute von Panem – Catching Fire") den angeblichen Tod des Surfer-Saxophonisten Coy Harlingen (Owen
Wilson, "Midnight in Paris")
überprüfen. Und irgendwie scheinen all seine neuen Fälle mit Michael Z.
Wolfmann in Zusammenhang zu stehen. Das ruft auch den mit Doc nicht wirklich
befreundeten Detective "Bigfoot" Bjornsen (Josh Brolin, "True Grit"), das FBI sowie die Staatsanwaltschaft – in Person von Docs aktueller
Freundin Penny Kimball (Reese Witherspoon, "Wasser für die Elefanten") – auf
den Plan …
Kritik:
Man kann es schon anhand dieser groben Inhaltsbeschreibung
erahnen: "Inherent Vice" erzählt keine ganz einfache Handlung. Und
ich sage: welch erfrischende Abwechslung! Ganz ehrlich, ich habe ja prinzipiell
keine großen Genre-Vorlieben, da ich vor allem gute Filme sehen will, unabhängig
von ihrer konkreten Thematik; aber das Thriller-Genre ist doch eines, das mir
schon seit längerem einige Sorgen bereitet. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß
es in der heutigen Zeit zumindest im Kinobereich kaum noch "normale"
Thriller gibt, sondern es sich fast immer um Action-Thriller handelt, bei denen
die Action viel stärker im Vordergrund steht als der Thrill. Die Storys sind häufig entweder simpel oder hanebüchen oder, wenn es doch einmal etwas verschlungener
wird, hemmungslos überkonstruiert. Nun will ich bestimmt nicht in eine
"Früher war alles besser"-Leier verfallen, schließlich gibt es immer noch die obligatorischen positiven Ausnahmen (in jüngerer Zeit etwa
"Nightcrawler" oder "Prisoners"). Für meinen Geschmack
war es in Sachen Thriller früher aber tatsächlich besser! Besonders die Film noir-Welle in den 1940er und 1950er Jahren hat es mir angetan, aber auch in den
1970er Jahren entstanden im Kielwasser des Siegeszuges des "New
Hollywood" bemerkenswerte Thriller voller Komplexität und Abgründigkeit. Meister-Regisseur
Paul Thomas Anderson ("There Will Be Blood") vereint nun in seiner
Adaption eines Romans von Thomas Pynchon viele der gelungensten Elemente dieser
Ären. Man kann es wohl so sagen: "Inherent Vice" wirkt wie eine
Kreuzung aus "Die Spur des Falken" oder "Tote schlafen
fest" mit "Chinatown", "Klute" oder "Ein Fall für
Harper" – dazu gesellt sich noch ein guter Schuß Drogenfilm á la
"Angst und Schrecken in Las Vegas", der reichlich pechschwarzen,
bizarren Humor einbringt. Diese höchst merkwürdige Melange hat bei Kritikern
und Publikum konträre Reaktionen hervorgerufen: Viele loben "Inherent
Vice" als kleines Meisterwerk oder zumindest hervorragende Unterhaltung; nicht viel weniger kritisieren Andersons Film als unlogisch, zäh und
langweilig. Glücklicherweise zähle ich mich zur ersten Gruppe – aber ich liebe
ja auch komplizierte Geschichten voll von schrägen Charakteren und absurdem Humor
…
Manchmal erkennt man schon früh anhand kleinster Details, daß man
den folgenden Film höchstwahrscheinlich
sehr mögen wird. In Baz Luhrmanns "Moulin Rouge" beispielsweise habe
ich mich bereits verliebt, als das Musical ganz zu Beginn wie ein Bühnenstück
präsentiert wird, inklusive Dirigent für das Orchester und Vorhang, der ganz zu Beginn
den Film "auf der Bühne" verdeckt. Bei "Inherent Vice" ging
es nicht ganz so schnell, doch nachdem ich einige der Figurennamen
hörte, wußte ich: Wer solche Namen erfindet, dessen Humorgeschmack paßt
genau zu meinem! Shasta Fay Hepworth; Christian F.
"Bigfoot" Bjornsen; Petunia Leeway; Sauncho Smilax; Dr. Rudy
Blatnoyd; Japonica Fenway; Dr. Lily Hammer (!); Puck Beaverton; Adrian Prussia;
Agents Borderline und Flatweed … wie könnte man solche Namen denn nicht phantastisch
finden? Nun, ich tue es jedenfalls, und der Film hält für mich genau das, was
diese klangvoll-absurden Namen versprechen.
Dabei haben die Kritiker in einer Hinsicht gar nicht mal
Unrecht: Die Handlung ist tatsächlich ziemlich verschlungen und verliert sich
schon mal etwas in dramaturgisch nicht notwendig erscheinenden
Schlenkern. Doch in den meisten Fällen funktioniert das für mich wunderbar,
weil diese Episoden eben so herrlich durchgeknallt sind. Zudem erreicht
Andersons OSCAR-nominiertes Drehbuch durch diese Vorgehensweise (die wohl
der Romanvorlage entspricht, jedenfalls wird der Film als ziemlich
vorlagengetreu eingestuft), daß sich Docs Tätigkeit als Privatdetektiv authentisch
anfühlt. Es gibt nicht den einen spektakulären Fall, dem er sich mit voller
Kraft widmen kann; nein, es sind mehrere Aufträge, von denen einige zumindest
anfangs belanglos oder gar langweilig erscheinen. Aber als von den Honoraren (und
von nicht gerade billigen Drogen) abhängiger Privatdetektiv muß
Doc natürlich auch die erledigen. Auf Details will ich ansonsten gar nicht
eingehen, weil Docs immer wieder haarsträubende Erlebnisse erstens schwer zu
beschreiben sind (ein typischer Fall von "das muß man gesehen haben, um es
zu glauben …") und weil sie zweitens allesamt kleine Stücke des großen
Puzzles sind, das man in seiner Gesamtheit erst am Ende erkennt – wenn
überhaupt. Man sollte jedenfalls keine vollkommen logische Story erwarten,
auch keine, von der am Ende jedes Fitzelchen haarklein aufgeklärt wird. Wobei
man eventuelle Logik- oder Glaubwürdigkeitsmängel praktischerweise immer auf
Docs ausufernden Drogenkonsum schieben kann, denn es ist absolut möglich, daß
er einige Dinge schlicht halluziniert … Dennoch ergibt die Handlung
in ihrer Gesamtheit absolut Sinn – sie erfordert aber allein durch die
beträchtliche Anhäufung von Szenerie- und Storyline-Wechseln, daß man ihr
konzentriert folgt.
Joaquin Phoenix verkörpert den ständig bekifften
Privatdetektiv mit sichtlicher Hingabe. Soll heißen: Er wirkt,
als wäre er tatsächlich während der gesamten Dreharbeiten "high" gewesen, was zu
einer mitunter recht übertriebenen Schauspielerei führt … Das ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig,
paßt aber natürlich genau zu diesem merkwürdigen Protagonisten und offenbart ein gutes Comedy-Timing. Stimmungsvoll ist zudem die begleitende Musikauswahl, die von diversen
Psychedelic Rock-Songs der damaligen Zeit dominiert wird sowie von den
stilistisch daran angepaßten Kompositionen des Radiohead-Gitarristen Jonny
Greenwood. Im Zusammenspiel mit den farbenfrohen Kostümen entsteht so ganz
nebenbei eine überzeugende 1970er Jahre-Atmosphäre. Die übrigen Schauspieler
können ihre Charaktere derweil leider nur in Maßen ausgestalten, dazu ist das
Figurenensemble einfach zu groß und dementsprechend die Screentime der
einzelnen Personen zu gering. Doch das wird dadurch wieder wettgemacht, daß die
Figuren ihren schillernden Namen mehr als gerecht werden und damit ihren
Darstellern die Gelegenheit geben, ihre Spielfreude zu demonstrieren. Vor allem
Josh Brolin als ständig an einer Schokobanane am Stiel herumlutschender
Detective und Erzfeind von Doc sowie die Theaterschauspielerin Katherine Waterston
als Docs Ex-Freundin, Auftraggeberin und Femme fatale nutzen diese Chance
weidlich aus, wohingegen Benicio del Toro ("Savages") als Docs Anwalt sowie Owen Wilson eher
blaß bleiben. Dafür wird man Martin Shorts ("Vater der Braut") kurzen, aber wunderbar bizarren
Auftritt als exzentrischer Zahnarzt ganz gewiß im Gedächtnis behalten.
Fazit: "Inherent Vice – Natürliche Mängel"
ist ein bizarrer Genremix aus Thriller, Film noir, schwarzer Komödie und
Drogenfilm, der sein Publikum mit einer für die heutigen Hollywood-Verhältnisse
komplizierten, verästelten Handlung ebenso herausfordert wie mit seinem
ziemlich speziellen Humor – die Figurenzeichnung erreicht nicht das Niveau
früherer Anderson-Filme, wird aber durch durch die selbst in kleinen Nebenrollen hochkarätige Besetzung kompensiert. Das Resultat dürfte ein typischer
"love it or hate it"-Film sein …
Wertung: 9 Punkte.
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