Donnerstag, 15. Dezember 2022

GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO (2022)

Regie: Guillermo del Toro und Mark Gustafson, Drehbuch: Guillermo del Toro, Patrick McHale, Musik: Alexandre Desplat
Sprecher der Originalfassung: Gregory Mann, Ewan McGregor, David Bradley, Christoph Waltz, Ron Perlman, Finn Wolfhard, Tilda Swinton, John Turturro, Burn Gorman, Tim Blake Nelson, Tom Kenny, Cate Blanchett
Guillermo Del Toros Pinocchio (2022) on IMDb Rotten Tomatoes: 96% (8,3); weltweites Einspielergebnis: $0,1 Mio.
FSK: 12, Dauer: 117 Minuten.
Als sein geliebter Sohn Carlo während des Ersten Weltkrieges im Alter von nur 10 Jahren durch eine verirrte Bombe stirbt, ist der meisterhafte Holzschnitzer Geppetto (in der Originalfassung gesprochen von David Bradley aus der "Harry Potter"-Reihe) am Boden zerstört. Selbst zwei Jahrzehnte später, inzwischen hat in Italien der Faschist Mussolini die Macht übernommen, kann er sich nicht von seiner Trauer lösen, geht kaum noch der Arbeit nach und denkt von früh bis spät voller Bitterkeit an den verstorbenen Sohn. Als er eines Nachts betrunken eine Kiefer fällt und daraus eine Puppe schnitzt, die sein neuer Carlo werden soll, wird ein mitfühlender Waldgeist (Tilda Swinton, "Suspiria") darauf aufmerksam – und haucht der Puppe, die fortan Pinocchio heißen soll, Leben ein! Zudem soll die lebenskluge Grille Sebastian J. Cricket (Ewan McGregor, "Doctor Sleeps Erwachen") – die sich in der von Geppetto gefällten Kiefer gerade ein neues Heim eingerichtet hatte – auf Pinocchio aufpassen. Als Geppetto, wieder nüchtern, am nächsten Morgen auf den fröhlichen Pinocchio trifft, ist er zunächst schockiert, doch nach und nach akzeptiert er das unverhoffte Geschenk des Waldgeistes. Dummerweise erfährt bald der verschlagene Zirkusbesitzer Graf Volpe (Christoph Waltz, "Django Unchained"), der gerade vor Ort ist, von dieser wundersamen lebenden Holzpuppe und will sie als Hauptattraktion für seinen darbenden Zirkus ...

Kritik:
Zugegeben: So richtig originell ist eine "Pinocchio"-Verfilmung im 21. Jahrhundert nicht wirklich. Immerhin wurde Carlo Collodis beliebtes Kinderbuch aus dem späten 19. Jahrhundert bereits dutzendfach für Kino und TV adaptiert, wobei die bekannteste Version eine der ältesten ist: Disneys zweifach OSCAR-prämierter Zeichentrickfilm "Pinocchio" aus dem Jahr 1940. Alleine 2022 gab es zwei Neuverfilmungen für Streamingdienste: Zunächst Robert Zemeckis' Realfilm-Remake des Disney-Klassikers für Disney+ – die aber von der Kritik trotz Lob für die visuelle Umsetzung gnadenlos als "unnötig" und "seelenlos" verrissen wurde. Wenige Monate später folgte bei Netflix der Stop Motion-Animationsfilm "Guillermo del Toros Pinocchio", der Collodis Geschichte recht frei adaptiert und ins wenig einladende faschistische Italien der 1930er Jahre verlegt – und von der Kritik gefeiert wurde! Hundertprozentig kann ich die Begeisterung zwar nicht teilen (was vor allem an der etwas zähen ersten Hälfte liegt), aber zweifellos ist del Toro eine einfallsreiche Neuverfilmung mit einigen Musical-Elementen gelungen, die ans Herz geht und technisch absolut herausragend umgesetzt ist.

Streng genommen ist der Titel "Guillermo del Toros Pinocchio" Etikettenschwindel, denn weder hat der mexikanische OSCAR-Preisträger ("Pacific Rim") den Film alleine inszeniert noch hat er alleine das Drehbuch geschrieben. Vielmehr arbeitete er bei der Regie mit dem Stop Motion-Experten Mark Gustafson (drehte mehrere preisgekrönte Kurzfilme und war an Wes Andersons "Der fantastische Mr. Fox" beteiligt) zusammen und verfaßte das Skript gemeinsam mit Patrick McHale (TV-Serie "Abenteuerzeit mit Finn und Jake"). Und doch ist der Titel auch zutreffend, denn es handelt sich sehr offensichtlich und auf den ersten Blick um einen echten del Toro-Film, der aus jeder Pore dessen an den magischen Realismus erinnernden visuellen wie auch inhaltlichen Stil á la "Pans Labyrinth" oder "Shape of Water" atmet. Gerade optisch und hier vor allem bei den Kreaturen ist del Toros Einfluß unverkennbar: Sebastian J. Cricket und der als Graf Volpes rechte Hand agierende Affe Spazzatura haben beispielsweise ihren ganz speziellen Charme, doch meine Lieblinge sind der wunderbar gestaltete Waldgeist (aka "Die blaue Fee") und ihre Schwester Tod. Generell ist "Guillermo del Toros Pinocchio" in technischer Hinsicht fraglos ein Meisterwerk: Die Stop Motion-Technik ist so nahtlos und fließend umgesetzt, daß man immer wieder beinahe vergißt, hier einen Animationsfilm zu sehen – was auch an den in penibler Kleinstarbeit umgesetzten realistischen Bewegungen der Figuren liegt und an den für del Toro-Filme typischen cineastischen Kamerafahrten.

Inhaltlich kann "Guillermo del Toros Pinocchio" mit der technischen Brillanz leider nicht ganz mithalten. Gerade die erste Hälfte des knapp zweistündigen Films gestaltet sich ein wenig zäh, zumal einige Logik- und Glaubwürdigkeitsmängel sowie sehr große Zufälle stören. Wenn etwa die Dorfbewohner Pinocchio zunächst für einen leibhaftigen Dämon halten, ihn dann aber doch sehr schnell akzeptieren, wirkt das nur bedingt nachvollziehbar. Auch scheint Pinocchios Nase launenhaft in der Beurteilung dessen zu sein, was eine Lüge ist – manche Falschaussagen ihres "Besitzers" ignoriert sie geflissentlich, möglicherweise wertet sie diese eher als Stilmittel denn als echte Lügen? Das alles ist kein großes Problem und läßt sich mit ein wenig gutem Willen mit dem Argument "Es ist halt ein Märchen" abtun, aber mich hat es durchaus etwas gestört. Insgesamt wird es handlungstechnisch in der zweiten Hälfte deutlich besser, sobald Pinocchio (und dann auf der Suche nach ihm Geppetto) auf große Reise geht und die politische Komponente der in der Mussolini-Ära spielenden Geschichte stärker zum Tragen kommt – als Startschuß dient passenderweise ein humorig präsentierter, jedoch tatsächlich sehr makabrer Moment, der mit einer Möwe zu tun hat. "Guillermo del Toros Pinocchio" wird in dieser zweiten Hälfte nachvollziehbarerweise düsterer und ernster, weshalb er sicherlich nicht für ganz kleine Kinder geeignet ist. Aber del Toro übertreibt es nicht mit den Grausamkeiten und erhält dem Publikum stets mindestens einen Hoffnungsschimmer (oft genährt vom gutherzigen Pinocchio). Obwohl einige Nebenfiguren eher stereotyp bleiben, dürfen andere erfreulicherweise eine echte, glaubwürdige Entwicklung durchlaufen, die wiederum mit Pinocchio zusammenhängt – gerade Spazzatura und der junge Kerzendocht (Finn Wolfhard, "Es") wachsen einem unerwartet ans Herz. Spaß machen ebenfalls die skurrilen Ideen, die del Toro immer wieder einstreut und von denen mir die (allesamt von Tim Blake Nelson eingesprochenen) schwarzen Hasen am besten gefallen haben, die die Toten ins Unterreich bringen. In diesen magischen Momenten fühlt man sich im besten Sinne an phantasievolle del Toro-Klassiker wie "Pans Labyrinth" oder "Hellboy 2" erinnert.

Alles richtig gemacht hat del Toro bei der Besetzung der Sprechrollen (in der Originalfassung). Der junge Gregory Mann bringt Pinocchios kindliche Naivität und Unschuld, aber auch seine Launenhaftigkeit und seinen Trotz sympathisch rüber, Ewan McGregors wohltönende Stimme paßt perfekt zum gutmütigen Sebastian J. Cricket, der auch als Erzähler fungiert. Zusätzlich überzeugt David Bradley mit seiner facettenreichen Stimme als der zunächst von seiner Trauer gebrochene Geppetto, während Christoph Waltz als Graf Volpe wieder einen charismatisch-fiesen Antagonisten gibt (ebenso Ron "Hellboy" Perlman als kriegstreiberischer Podestá) und Tilda Swinton sowohl dem Waldgeist als auch Tod die nötige mystische Aura verleiht. Und als Bonus haben wir noch Cate Blanchett ("Nightmare Alley"), die – kein Witz – die Affenlaute von Spazzatura vertont hat! Eine besonders wichtige Rolle spielt in "Guillermo del Toros Pinocchio" die Musik. Alexandre Desplat, ein Meister seines Fachs, der nicht zuletzt für seine vielfache Zusammenarbeit mit Wes Anderson bei Filmen wie "Grand Budapest Hotel" oder "The French Dispatch" bekannt ist, hat wieder einmal einen schönen, sentimentalen und gefühlvollen Score eingespielt – übrigens ausschließlich mit Holz-Instrumenten! –, der jedoch meines Erachtens nicht an seine besten Arbeiten heranreicht. Da diese Pinocchio-Version Musical-Elemente enthält, erschuf Desplat zudem (mit den für die Texte verantwortlichen del Toro, McHale und Roeban Katz) neun Lieder, die allesamt lieblich klingen, aber doch eher unspektakulär geraten sind und nicht übermäßig erinnerungswürdig erscheinen (abgesehen vielleicht von Pinocchios bewegender Ballade "Ciao Papa") – wobei das vermutlich sogar so gewollt ist, da hier eben nicht die Musik-Performance im Vordergrund steht, sondern die Liedtexte und die Emotionen, die sie transportieren.

Fazit: "Guillermo del Toros Pinocchio" ist eine recht freie, aber technisch brillante, erstklassig besetzte und sehr sympathisch erzählte Neuinterpretation des Kinderbuch-Klassikers als Stop Motion-Animationsfilm mit Musical-Elementen.

Wertung: Gut 7,5 Punkte.

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