Mittwoch, 22. September 2021

PROMISING YOUNG WOMAN (2020)

Regie und Drehbuch: Emerald Fennell, Musik: Anthony Willis
Darsteller: Carey Mulligan, Bo Burnham, Jennifer Coolidge, Clancy Brown, Chris Lowell, Alison Brie, Alfred Molina, Laverne Cox, Max Greenfield, Adam Brody, Samuel Richardson, Connie Britton, Christopher Mintz-Plasse, Francisca Estevez, Molly Shannon, Emerald Fennell
Promising Young Woman (2020) on IMDb Rotten Tomatoes: 90% (8,1); weltweites Einspielergebnis: $18,9 Mio.
FSK: 16, Dauer: 114 Minuten.
Die 30-jährige Cassie (Carey Mulligan, "Die Ausgrabung") hat ein etwas eigentümliches Hobby: Sie geht gerne Abends in Clubs, tut so, als wäre sie stockbesoffen und läßt sich von einem hilfsbereiten Gentleman "nach Hause bringen". In Wirklichkeit ist sie vollkommen nüchtern und testet, wie weit ihre "Retter" gehen und ob sie ihren vermeintlich hilflosen Zustand ausnutzen wollen, um sie zu vergewaltigen – falls ja, erteilt sie ihnen eine Lektion, die sie nicht so schnell vergessen … Der Grund für Cassies "Hobby" liegt sieben Jahre in der Vergangenheit, als ein traumatisches Erlebnis die begabte Medizinstudentin dazu brachte, das College zu verlassen, bei ihren besorgten Eltern Susan (Jennifer Coolidge, "American Pie – Das Klassentreffen") und Stanley (Clancy Brown, "The Ballad of Buster Scruggs") einzuziehen und eine anspruchslose, wenig einträgliche Arbeit in einem Coffee-Shop anzunehmen. Als dort eines Tages Cassies charmanter ehemaliger Kommilitone Ryan (Bo Burnham, "The Big Sick") auftaucht und sie um ein Date bittet, sagt Cassie zögerlich zu. Tatsächlich kommen die beiden gut miteinander aus, die durch Ryan ausgelöste Erinnerung an den damaligen College-Vorfall bringt Cassie jedoch auch dazu, ihre "Lektionen" zielgerichteter auf die damals Beteiligten auszurichten …
 
Kritik:
Als 2017 im Zuge des Harvey Weinstein-Skandals die #MeToo-Bewegung nicht nur Hollywood durchrüttelte, war klar, daß diese zu Änderungen führen würde – allgemein in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt, aber auch ganz konkret in der US-amerikanischen sowie der weltweiten Film- und Fernsehwelt. Vier Jahre später kann man vielleicht ein wenig desillusioniert sein, daß sich die Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung und Bekämpfung von Mißbrauch langsamer vollziehen als erhofft, aber immerhin: Es geht voran. Inzwischen gibt es auch erste Kinofilme, die sich direkt ("Bombshell", "The Assistant") oder eher indirekt ("Niemals Selten Manchmal Immer") mit der Thematik befassen – doch der erste "richtige" #MeToo-Film mit einer größeren Reichweite ist wohl tatsächlich "Promising Young Woman". Das Kino-Regie- und Drehbuch-Debüt der britischen Schauspielerin Emerald Fennell ("The Danish Girl") nimmt niemals konkret Bezug auf Weinstein oder vergleichbare Skandale wie den in "Bombshell" behandelten beim TV-Sender Fox News, aber die gesamte Story und die Dialoge des oft als (schwarzhumoriger) feministischer Rachethriller beschriebenen Films – wobei die Kategorisierung der Komplexität nicht wirklich gerecht wird – sind durchzogen von entsprechenden Aspekten. Zwar geht Fennell manchmal arg plakativ vor, oft aber wunderbar subtil, weshalb sie für ihr clever konstruiertes, sehr stylish inszeniertes und von der grandiosen Hauptdarstellerin Carey Mulligan kongenial auf die Leinwand übertragenes Original-Drehbuch einen verdienten OSCAR gewann (zudem gab es Nominierungen für ihre Regie, den Schnitt und Carey Mulligan sowie als Bester Film).
 
"Promising Young Woman" geht sogleich in medias res und zeigt, wie die scheinbar fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunkene Cassie vom noblen Helfer Jerry (Adam Brody, "Mr. & Mrs. Smith") vor möglichen Gefahren in Sicherheit gebracht wird – direkt in seine Wohnung. Dort erwartet ihn eine große und zutiefst peinliche Überraschung, als Cassie sich als stocknüchtern entpuppt und Jerry verständlicherweise wenig mitfühlend mit seinem Fehlverhalten konfrontiert. Für das Publikum ist diese Wendung eher keine Überraschung, sofern man sich vorher auch nur ansatzweise über den Film informiert oder den Trailer gesehen hat, effektiv ist die Sequenz trotzdem – gerade weil Jerry zu Beginn tatsächlich ein wohlmeinender, sympathischer Helfer zu sein scheint, der erst ohne Zuschauer die Abgründe hinter der freundlichen Maske offenbart. Noch verstärkt wird die Wirkung dadurch, daß Emerald Fennell sicherlich sehr bewußt viele von Cassies – fast hätte ich "Opfer" geschrieben, aber das wäre eine fatale Fehlbezeichnung; also sagen wir: – Zielobjekten mit Schauspielern besetzt hat, die einst als von Fans umschwärmte Charmebolzen in einer TV-Serie bekannt wurden. Neben "O.C., California"-Star Adam Brody sind das vor allem Chris Lowell ("Veronica Mars") und Max Greenfield ("New Girl"), und alle drei spielen in "Promising Young Woman" Typen, die von ihren damaligen Starrollen auf den ersten Blick gar nicht so weit entfernt sind. Adam Brody könnte tatsächlich der etwas gealterte, aber immer noch charmante, witzige und romantische Seth Cohen aus "O.C., California" sein – bis er unvermittelt zum Möchtegern-Vergewaltiger avanciert. Am erschreckendsten ist jedoch Max Greenfields fließende Transformation vom liebenswert durchgeknallten Chaoten (wie bei "New Girl") zum eiskalten Soziopathen – alleine beim Gedanken daran läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken! Dabei muß ich allerdings auf eine erste kleine Ungereimtheit zu sprechen kommen, denn daß Cassie so lange mit ihren Lektionen durchkommt (wie lange genau sie das schon tut, erfahren wir nicht, die abgehakte Namensliste in ihrem Notizbuch ist aber lang ...), obwohl sie keine Helfer hat und nicht einmal irgendwie bewaffnet zu sein scheint, wirkt etwas unglaubwürdig. Ja, sie setzt auf den Überraschungseffekt und weiß sich zu wehren, trotzdem dürfte es sicher sein, daß sie das in der Realität nicht so lange schadlos durchziehen könnte.
 
Davon abgesehen wird Cassie dem Publikum allerdings sehr authentisch nähergebracht. Bleibt man zunächst noch im Ungewissen über die konkreten Hintergründe für ihr "Hobby" und ihren Lebenswandel von der "vielversprechenden jungen Frau" im Medizinstudium zur griesgrämigen Kaffeeverkäuferin, erfahren wir nach und nach mehr und lernen sie besser kennen. Dazu dient auch ihr Wiedersehen mit ihrem früheren Kommilitonen Ryan – einnehmend verkörpert von Komiker Bo Burnham, der während der Corona-Pandemie mit seinem gefeierten Netflix-Special "Inside" für Furore sorgte –, dem es mit Charme, Humor und einer gewissen Hartnäckigkeit gelingt, Cassie aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen und sie wieder am relativ normalen Leben teilhaben zu lassen (zur großen Erleichterung ihrer Eltern übrigens). Nur sorgt die sanft erblühende Beziehung zu Ryan eben auch dafür, daß die Erinnerungen an jenes Trauma am College mit aller Macht zurückkehren, das nicht nur ihr Leben so sehr aus dem Tritt brachte. Cassies Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach Vergeltung und dem Wunsch nach Normalität bringt Carey Mulligan herausragend zur Geltung, man sieht ihr den Widerstreit der Gefühle mit dem lange gepflegten Haß auf die Täter und ihre Ermöglicher ebenso an wie die zarte Hoffnung, endlich alles hinter sich lassen zu können. Cassies Lektionen werden in dieser Phase deutlich zielgerichteter und perfider und man ahnt ebenso wie vermutlich Cassie selbst, daß irgendwann ein Punkt der Eskalationsspirale erreicht ist, an dem es kein Zurück mehr gibt – nur daß man nicht sicher ist, ob man den erwarten oder fürchten soll, denn schließlich wünscht man dieser traumatisierten jungen Frau von ganzem Herzen ein glückliches Leben, ihren Zielobjekten aber ebenso leidenschaftlich eine gerechte Bestrafung. Wobei die wohlgemerkt zumindest großteils nicht plakativ als böse Menschen gezeichnet werden, sondern sehr realistisch und ambivalent, manchmal sogar mit nachvollziehbaren Argumenten für ihr damaliges Verhalten.
 
Besonders eindrucksvoll fällt die Lektion für die heutige Unidekanin Walker (Connie Britton, TV-Serie "Nashville") aus, die sich mit den üblichen, juristisch durchaus stichhaltigen Argumenten verteidigt (z.B. "Aussage gegen Aussage"), teilweise aber auch mit ziemlich erbärmlichen und entlarvenden Ausreden ("kam jede Woche vor", "können nicht alle verfolgen"). Die entstammen allerdings sehr wohl den Schlagzeilen realer Fälle, vor allem die haarsträubende Geschichte rund um den heutigen Supreme Court-Richter Brett "I like beer" Kavanaugh – dem von einer heutigen Professorin glaubwürdig sexuelles Fehlverhalten am College vorgeworfen wurde – war eine so offensichtliche wie beklemmende Inspirationsquelle für Fennell; auch die "Argumente", die nach Donald Trumps geleaktem "Grab them by the pussy"-Video von seinen Verteidigern vorgebracht wurden ("locker room talk"), erkennt man sinngemäß wieder. Cassies Geschichte läuft derweil auf drei drastische Wendungen im letzten Akt hinaus, von denen die erste leider äußerst offensichtlich und meiner Ansicht nach auch inhaltlich ein bißchen ärgerlich ist (der "Gotcha"-Moment erinnert ungut an einen ähnlichen aus David Slades "Hard Candy" aus dem Jahr 2005). Der zweite ist hingegen grandios, während man über den letzten definitiv streiten kann – für mich funktioniert er aber gut. Ein kleiner Geniestreich gelingt Fennell zudem, indem sie in dieser Schlußphase ihr Werk zu einer subtilen Parodie typischer politisch unkorrekter Hollywood-Komödien á la "Hangover" macht, die Vorkommnisse aber gerade eben stark genug überzeichnet, daß vermeintlich harmlose Unterhaltung zu höchst unangehmen Momenten führt.
 
Das paßt dazu, daß man als Mann kaum anders kann, als sich wenigstens ab und zu direkt angesprochen zu fühlen von Cassies Lektionen und dem Verhalten ihrer Zielobjekte. Ich bin mir eigentlich sicher, daß ich mich Frauen gegenüber stets mehr oder weniger vorbildlich (jedenfalls niemals mißbräuchlich) verhalten habe und ich bin sehr zuversichtlich, daß meine weiblichen Bekanntschaften der letzten zwei bis drei Dekaden das größtenteils, womöglich ausnahmslos bestätigen würden – dennoch muß ich zugeben, daß ich mich in ein oder zwei (harmloseren) Momenten von "Promising Young Woman" etwas ertappt fühlte. Fennells Film bringt männliche Zuschauer dazu, sich selbst, ihr Verhalten, gar ihre Gedanken und alltäglichen Gewohnheiten zu hinterfragen (beispielhaft dafür steht eine kurze, aber ziemlich geniale Szene, in der Cassie von drei Bauarbeitern auf der anderen Straßenseite blöd angemacht wird, sie mit ihrer Reaktion aber komplett auf dem falschen Fuß erwischt) – und das ist eine erstaunliche und lobenswerte Leistung. Schauspielerisch ist Carey Mulligan unumstrittener Star des Films mit einer wirklich herausragenden Leistung; ansonsten hatte ich Max Greenfields furchterregende Transformation schon lobend hervorgehoben und möchte Alfred Molina ("Prince of Persia") nicht unerwähnt lassen, der als reumütiger Anwalt einen sehenswerten Kontrapunkt zu den übrigen männlichen Figuren des Films setzt (die, das sollte man schon anmerken, teilweise arg eindimensional daherkommen). Lob verdient abschließend noch die musikalische Begleitung von "Promising Young Woman", bei der eine auf den ersten Blick sehr eigentümlich anmutende, jedoch in sich erstaunlich stimmige Songzusammenstellung mit seichten Pophits (Spice Girls, Paris Hilton), Evergreens ("Angel of the Morning"), klassischen Musikstücken (Wagner, Pachelbel) und zwei stimmungsvollen Liedern der jungen US-Künstlerin DeathbyRomy (ein "It's Raining Men"-Cover und "Come and Play with Me") im Mittelpunkt steht, deren Interpreten passenderweise alle weiblich sind – als Höhepunkt wird eine Schlüsselszene zu Beginn des dritten Akts von einer genialen, gänsehauterzeugend dissonanten Streicher-Instrumentalversion von Britney Spears' "Toxic" unterlegt. Äußerst merkwürdig, aber ziemlich grandios – wie der gesamte Film!
 
Fazit: "Promising Young Woman" ist eine stylishe, beinahe altgriechisch anmutende Tragödie im Gewand einer rabenschwarzen Tragikomödie mit starken Thriller-Elementen und aktuellem gesellschaftlichen Bezug – getragen von einem intelligenten Drehbuch und einer grandiosen Hauptdarstellerin Carey Mulligan.
 
Wertung: 9 Punkte.
 
 
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