Dienstag, 28. Januar 2020

THE IRISHMAN (2019)

Regie: Martin Scorsese, Drehbuch: Steven Zaillian, Musik: Robbie Robertson
Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Stephen Graham, Harvey Keitel, Domenick Lombardozzi, Bobby Cannavale, Ray Romano, Anna Paquin, Kathrine Narducci, Jack Huston, Stephanie Kurtzuba, Jesse Plemons, Gary Basaraba, Paul Herman, Marin Ireland, Sebastian Maniscalco, Lucy Gallina, Welker White, Steven Van Zandt, Paul Ben-Victor
The Irishman (2019) on IMDb Rotten Tomatoes: 95% (8,8); weltweites Einspielergebnis: $1,0 Mio.
FSK: 16, Dauer: 209 Minuten.
Als der irischstämmige Lastwagenfahrer Frank Sheeran (Robert De Niro, "Silver Linings") im Philadelphia der 1950er Jahre angeklagt wird, weil er einen Teil der Ladung illegal an die örtliche Mafia verkauft hat, vertritt ihn vor Gericht der Gewerkschaftsanwalt Bill Bufalino (Ray Romano, "The Big Sick"), der prompt einen Freispruch erwirkt. Was Frank nicht ahnt: Bills Cousin ist der einflußreiche Mafia-Boß Russell Bufalino (Joe Pesci, "Lethal Weapon 2"), dem er Frank nach dem Sieg vor Gericht vorstellt. Russell ist angetan von Frank und wird zu seinem Mentor. Da der Kriegsveteran Frank alle Befehle klaglos ausführt – selbst Morde – schafft er einen raschen Aufstieg in den Rängen der Mafia und erhält schließlich einen prestigeträchtigen, langfristiger ausgelegten Auftrag: Er wird zum Leibwächter des mächtigen und eng mit dem organisierten Verbrechen verbandelten Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino, "Once Upon a Time in … Hollywood"). Frank und der hitzköpfige Jimmy verstehen sich gut und werden bald zu engen Freunden, ihre Familien verbringen ebenso viel Zeit miteinander; speziell Franks Tochter Peggy (als Erwachsene: Anna Paquin, "Trick 'r Treat") hat ein inniges Verhältnis zu ihrem Lieblings-Onkel Jimmy. Doch als im Jahr 1960 John F. Kennedy zum US-Präsidenten gewählt wird und seinen Bruder Robert (Jack Huston, "Hail, Caesar!") zum Generalstaatsanwalt ernennt, nimmt sich dieser – obwohl JFK bei der Wahl aktiv von der Mafia unterstützt wurde – das organisierte Verbrechen und ganz speziell Jimmy Hoffa vor, was diesem letztlich eine mehrjährige Haftstrafe einbringt. Als Jimmy wieder freikommt, will er "seine" Gewerkschaft natürlich zurück, doch seine Nachfolger Frank Fitzsimmons (Gary Basaraba, "The Accountant") und Tony Provenzano (Stephen Graham, "Rocketman") denken gar nicht daran, ihre Macht abzugeben – und auch der Mafia wird Jimmys erratisches Verhalten zunehmend lästig. Kann Frank seinen Kumpel davon überzeugen, sich zurückzuhalten, bevor etwas Schlimmes passiert?

Kritik:
Es soll ja Menschen geben, die glauben, Martin Scorsese könne nur Mafiafilme drehen. Das ist einerseits ansatzweise verzeihlich, da er dieses Genre mit einigen Klassikern geprägt hat wie kaum ein anderer Filmemacher (abgesehen von "Der Pate"-Regisseur Francis Ford Coppola, versteht sich). Andererseits offenbart es erhebliche Wissenslücken, denn in seiner mittlerweile mehr als fünf Dekaden umspannenden Karriere drehte der Italo-Amerikaner mit "Hexenkessel" (1973), "Good Fellas" (1990), "Casino" (1995), "Departed" (2006) und "The Irishman" gerade einmal fünf Mafiafilme – von denen in Deutschland lediglich "Departed" (Remake des hongkong-chinesischen Meisterwerks "Infernal Affairs") die Marke von einer Million Kinogängern knackte, auch in den USA zählen nach Besucherzahlen lediglich "Departed" und (knapp) "Good Fellas" zu den zehn erfolgreichsten Scorsese-Werken. Zu den von ihm bearbeiteten Genres zählen daneben grimmige Sozialstudien ("Taxi Driver"), Thriller ("Kap der Angst"), Sportfilme ("Wie ein wilder Stier"), Dramen ("Bringing Out the Dead", "Die Farbe des Geldes"), Bibelfilme ("Die letzte Versuchung Christi"), Historienfilme ("Zeit der Unschuld", "Silence"), Biopics ("Aviator", "The Wolf of Wall Street", "Kundun"), Familienabenteuer ("Hugo Cabret"), Tragikomödien ("The King of Comedy"), Musikfilme ("New York, New York"), Horrorfilme ("Shutter Island") und Dokus ("No Direction Home", "Shine a Light") – und in all diesen Genres bewies Martin Scorsese sein Können. Den gebürtigen New Yorker auf seine Mafiafilme zu reduzieren, wäre also höchst unfair – und doch ist es unübersehbar, daß ihm dieses Genre besonders am Herzen liegt. Bestes Beispiel dafür ist "The Irishman", Adaption des Sachbuches "I Heard You Paint Houses" von Charles Brandt, die Scorsese seit der Buchveröffentlichung im Jahr 2003 anstrebte, aber erst gut 15 Jahre später realisieren konnte, weil die traditionellen Filmstudios ihm nicht genügend Geld für ein dreieinhalbstündiges Gangsterepos mit drei legendären, aber nicht mehr unbedingt hippen Hauptdarstellern zur Verfügung stellen wollten – das übernahm schließlich Streaming-Anbieter Netflix, der Scorsese beeindruckende rund $160 Mio. zur Verfügung stellte und ihm volle kreative Freiheit ließ. Ob sich das für Netflix letztlich rentiert hat, werden wir womöglich nie erfahren (und es wäre mangels regulärerer Kinoauswertung sowieso schwer quantifizierbar), doch alleine die zehn OSCAR-Nominierung (von denen jedoch keine in einen Sieg umgemünzt werden konnte) beweisen, daß man sich als Filmfreund über das unternehmerische Wagnis nur freuen kann – auch wenn "The Irishman" kaum als Scorseses bester Mafiafilm in die Historie eingehen wird.

Dreieinhalb Stunden sind eine Menge Holz; länger als "Avatar" oder "Titanic", länger sogar als der längste "Der Herr der Ringe"-Teil (in der Kinofassung). Ob diese Laufzeit für "The Irishman" wirklich nötig war, darüber kann man diskutieren. Fraglos hat Martin Scorseses Film speziell zu Beginn seine Längen und es hätte der Qualität wahrscheinlich nicht geschadet, hätten die Geldgeber Scorsese doch zu ein paar Kürzungen gedrängt, die den Film auf unter drei Stunden gebracht hätten. Andererseits ist es jedoch durchaus faszinierend zu beobachten, wie penibel und detailverliebt Scorsese seine mehrere Jahrzehnte umfassende Story behutsam aufbaut und die Hauptfiguren glaubwürdig entwickelt. Im heutigen Blockbuster-Kino geht es generell betont tempo- und actionreich zu, da kann es nicht schaden, zwischendurch mal wieder einen Film der ganz alten Schule zu Gesicht zu bekommen, der sich beim Erzählen unaufgeregt seine Zeit läßt und eine der drei Hauptfiguren erst nach über einer Stunde einführt. Dabei handelt es sich um den einflußreichen Gewerkschaftsboß Jimmy Hoffa und das ist der Zeitpunkt, an dem "The Irishman" richtig Fahrt aufnimmt. Bis dahin handelt es sich in erster Linie um eine gut beobachtete Milieustudie, die nicht unähnlich "Good Fellas" oder gar noch mehr Sergio Leones (ähnlich langem) "Es war einmal in Amerika" den Aufstieg des von Robert De Niro gewohnt intensiv verkörperten Kriegsveteranen Frank Sheeran vom kleinen LKW-Fahrer mit krimineller Energie zum loyalen Mafia-Mitglied mit mächtigen Freunden schildert. Dazu zählt besonders Franks Förderer und Mentor Russell Bufalino – ein Rolle, für die es Scorsese gelang, seinen langjährigen Weggefährten Joe Pesci aus dem Ruhestand zu locken. Zum Glück, denn Pesci – ebenso wie Pacino OSCAR-nominiert – spielt die Rolle sehr einnehmend und darf sogar neue schauspielerische Facetten (zumindest innerhalb eines Gangsterfilms) zeigen, denn Russell ist keineswegs einer der typischen Pesci-Wüteriche á la "Casino", mit deren perfekter Darstellung er weltberühmt wurde. Stattdessen ist Russell ein leiser, freundlicher und stets beherrschter, aber nichtsdestoweniger gefährlicher Mann, der den Laden gut im Griff hat und auch nicht vor drastischen Entscheidungen zurückschreckt, wenn es sein muß.

Das Gegenstück zu Russell ist Jimmy Hoffa, von Pacino als charismatischer und großspuriger Menschenfänger gezeichnet, der aber zu Größenwahn neigt, sich von einem einmal gefaßten Vorhaben – wie dumm oder gefährlich es auch sein mag – nicht mehr abbringen läßt und eine sehr kurze Zündschnur hat. Dieses meisterhafte Darsteller-Trio miteinander agieren zu sehen, ist für jeden Anhänger der Schauspielkunst ein wahres Vergnügen und obwohl De Niros Frank im Zentrum der Geschichte steht, ist die vielleicht intensivste und denkwürdigste Szene von "The Irishman" das direkte Aufeinandertreffen von Russell und Jimmy bei einer Feier, bei der Frank eine Auszeichnung erhält – da sprühen dermaßen die Funken, da kann keine Schießerei oder Verfolgungsjagd mithalten! Angesichts dieser drei Schauspiel-Ikonen, denen Scorsese viel Raum zum Glänzen gibt, läßt es sich verschmerzen, daß die übrigen Charaktere recht blaß bleiben. Für den Mangel an substantiellen Frauenrollen mußte sich Scorsese auch ein wenig Kritik anhören und die ist nicht ganz unberechtigt – lediglich Franks als Erwachsene von Anna Paquin verkörperte Tochter Peggy spielt (auch ohne viele Worte) eine bedeutende Rolle, da sie beispielhaft für die Konsequenzen von Franks Tätigkeit für sein Privatleben steht. Die weiteren Nebenrollen sind zwar mit Ray Romano (als Russells Cousin Bill), Stephen Graham (als Hoffas Erzrivale Tony Provenzano), Jesse Plemons ("Game Night"; als Hoffas Ziehsohn Chuckie) oder Harvey Keitel ("Grand Budapest Hotel"; als Gangsterboß Angelo Bruno) namhaft besetzt und gut gespielt, bleiben aber letztlich nur Beiwerk. Netter Einfall: Wann immer ein neuer Gangster auftritt, blendet Scorsese kurz einen Text über sein in den meisten Fällen gewaltsames Ende ein – von einer etwaigen Verherrlichung der Mafia kann nicht nur deshalb also keine Rede sein. So gewissenhaft und gekonnt Scorsese "The Irishman" aufzieht und trotz des gemächlichen Erzähltempos und der vielen Zeitsprünge die Aufmerksamkeit des Publikums behält, läßt sich doch nicht leugnen, daß es im Vergleich zu seinen früheren Gangsterfilm-Klassikern an wirklich hervorstechenden Szenen mangelt. Viel Neues hat Scorsese über die Thematik nicht mehr zu erzählen und das, was er erzählt, hat abseits des Schauspielerischen nicht viele Höhepunkte zu bieten. Die Story spielt sich zu der musikalischen Begleitung von Robbie Robertson ("Die Farbe des Geldes") und vielen zeitgenössischen Songs auf konstant hohem Niveau ab, doch die Anzahl der denkwürdigen Momente hält sich in sehr engen Grenzen.

Ein Element von "The Irishman", das für deutlich mehr Diskussionen gesorgt hat als sämtliche inhaltlichen Aspekte, ist die Nutzung der CGI-Verjüngung der Hauptdarsteller. So etwas wurde bereits in Filmen wie "Ant-Man" (bei Michael Douglas) überzeugend etabliert, flächendeckend geschieht es jedoch in "The Irishman" erstmals. Technisch ist das mit Sicherheit wegweisend, die Meinungen darüber, wie überzeugend es wirkt, sind aber geteilt. Stärkstes Argument der Kritiker ist die Tatsache, daß die digital verjüngten Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci mehr (De Niro) oder weniger (Pesci) große Unterschiede zu den realen jungen De Niro, Pacino und Pesci aufweisen. Das liegt daran, daß der Computer die Gesichtszüge verjüngen kann, jedoch nicht die generellen Körpermaße oder die Bewegungen. Bei den Dreharbeiten wurde zwar ausdrücklich darauf geachtet, daß die Darsteller in den "jüngeren" Szenen leichtfüßiger und beweglicher agieren als in den "alten" – aber daß das Veteranen-Trio allesamt auf die 80 Jahre zugeht, läßt sich nunmal nicht einfach so wegschauspielern. Dazu kommt, daß speziell De Niro heute ein wesentlich breiteres Gesicht hat als in jungen Tagen, weshalb beispielsweise der "Taxi Driver"-De Niro ganz anders aussieht als der junge Frank Sheeran. Das ist zumindest zu Beginn schon ein bißchen irritierend, allerdings habe ich mich schnell daran gewöhnt, und außerdem: "The Irishman" ist ein Spielfilm, Frank Sheeran ist eine Rolle. Als Zuschauer sehen wir ja nicht Robert De Niro, sondern Frank Sheeran (in De Niros Interpretation), und der darf natürlich anders aussehen als Travis Bickle (in "Taxi Driver") oder Jake LaMotta ("Wie ein wilder Stier"), auch wenn alle vom gleichen Schauspieler verkörpert werden. Bei Pacino und Pesci ist die Sache sowieso unproblematisch, da sich beide optisch nicht sehr verändert haben. Unterm Strich halte ich dieses CGI-Experiment für gelungen, ich hätte mich aber auch nicht darüber beschwert, wäre Scorsese wie in früheren Zeiten vorgegangen und hätte die jungen Figuren einfach mit anderen Darstellern besetzt – immerhin feierte De Niro selbst in "Der Pate, Teil II" seinen endgültigen Durchbruch als junge Version des in Teil I von Marlon Brando gespielten Don Vito Corleone ...

Fazit: "The Irishman" ist ein technisch und schauspielerisch brillanter Gangsterfilm mit drei glänzend ausgearbeiteten Hauptfiguren, der jedoch mit dreieinhalb Stunden etwas zu lang für seine letztlich überschaubare und nur wenig Neues bietende Handlung geraten ist.

Wertung: Gut 8 Punkte.


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