Originaltitel: Réalité
Regie, Drehbuch und Musik (und Schnitt und Kamera): Quentin
Dupieux
Darsteller: Alain Chabat, Jon Heder, Jonathan Lambert, Kyla
Kenedy, Élodie Bouchez, John Glover, Eric Wareheim, Matt Battaglia, Lola Delon,
Roxane Mesquida, Michel Hazanavicius
Jason Tantra (Alain Chabat, Julius Cäsar in "Asterix
& Obelix: Mission Kleopatra") arbeitet als Kameramann bei einer
TV-Kochshow, will aber als Regisseur und Autor einen eigenen Film drehen. Als
er seine Idee dem Produzenten Bob Marshal (Jonathan Lambert, "Das
verflixte 3. Jahr"), für den er früher gearbeitet hat, pitcht, ist dieser
begeistert von der Story über auf der ganzen Welt bösartig werdende TV-Geräte,
die ihre Zuschauer Tag für Tag dümmer machende (und schließlich tötende)
Strahlen aussenden … Nur eines fehlt Bob noch, damit er den Film bewilligt:
Jason muß ihm innerhalb zweier Tage eine Aufnahme des perfekten
schmerzerfüllten Stöhnens besorgen, mit dem die TV-Opfer qualvoll aus dem Leben
scheiden sollen. Bob
muß sich parallel mit dem eigenwilligen Ex-Dokumentarfilmer Zog (John Glover, Lionel
Luther in der TV-Serie "Smallville") herumschlagen, dessen
extravagantes Spielfilmdebüt vielversprechend wirkt, Bob aber auch
jede Menge Nerven kostet. Der Moderator der oben erwähnten Kochshow, Denis (Jon Heder,
"Napoleon Dynamite"), hat derweil andere Probleme: Er leidet seit
Tagen unter einem unerträglichen Juckreiz und fast seinen ganzen Körper
bedeckenden Ausschlägen – die außer ihm aber niemand sieht! Und dann wäre da noch ein kleines Mädchen namens
Reality (Kyla Kenedy, Mika in der 4. Staffel der TV-Serie "The Walking
Dead"), das in den Innereien eines von ihrem Vater bei der Jagd erlegten
Wildschweins eine komplett unverdaute Videokassette findet …
Kritik:
Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, Namen und Halbsätzen, auf die die Besprechung eines Films von Quentin Dupieux ("Wrong",
"Wrong Cops", "Rubber") eigentlich nicht verzichten kann:
Surreal, absurd, pythonesk, vollkommen und total durchgeknallt, Luis Buñuel,
eigenwillig, skurril, nihilistisch, sehr spezieller Humor, das Gegenteil von Mainstream,
muß man selber gesehen haben, schwer zu rezensieren. Alle diese Bausteine
treffen auch auf den neuesten Streich des französischen Tausendsassas zu, wobei
für mich als Rezensent der letzte davon natürlich ziemlich ärgerlich ist. Denn,
ja, auch "Reality" ist unheimlich schwer zu rezensieren, was mich
aber natürlich nicht davon abhält, es dennoch heldenhaft zu versuchen. Zumal es
sich meiner Meinung nach un Dupieuxs bislang besten Film handelt (und seinen
verrücktesten – und DAS will nun wirklich was heißen!).
Nachdem Dupieux sich in "Wrong Cops" zugunsten
einer anekdotenhafteren Erzählweise fast vollständig von einer kohärenten Handlung
verabschiedet hatte, geht "Reality" wieder stärker in
Richtung "Wrong". Wobei die Story, die "Reality" erzählt,
deutlich anspruchsvoller angelegt ist als alles, was Dupieux bisher fabriziert
hat. Es mag im ersten Moment komisch klingen, aber als der Abspann gelaufen
war, war mein erster Gedanke: Okay, jetzt weiß ich, wie "Inception"
ausgesehen hätte, wenn ihn nicht Christopher Nolan gedreht hätte, sondern
Quentin Dupieux. Das wollte ich zwar eigentlich nie wissen, jetzt bin ich
trotzdem froh darüber. Wohlgemerkt, inhaltlich halten sich die
Parallelen zwischen beiden Filmen erwartungsgemäß in sehr engen Grenzen, aber
in einem entscheidenden Punkt ähneln sie einander überraschend stark: dem virtuosen
(und potentiell höchst verwirrenden) Spiel mit ineinander verschachtelten
Traum- oder Realitätsebenen. Während dieses Konzept bei "Inception"
sehr früh etabliert wird, ist der noch annähernd "normal" beginnende "Reality"
(wenig überraschend) zunächst viel undurchsichtiger in seiner Intention.
Das mag ein wenig nach einem Spoiler klingen, aber keine Sorge:
"Reality" ist dermaßen unvorhersehbar, daß auch das frühzeitige
Wissen um verschiedene Erzählebenen nicht das Geringste an der Wirkung des
Gezeigten ändert. Mal ganz abgesehen davon, daß im Grunde genommen bereits der
Titel des Films diesen Nicht-Spoiler vorwegnimmt …
Denn wer glaubt, schon Dupieuxs vorherige Werke seien
unfaßbar absurd und skurril gewesen, der hat damit zwar vollkommen Recht;
"Reality" übertrifft sie dennoch bei weitem! Da tritt der Moderator
einer Kochshow wie selbstverständlich ausgerechnet im
Ganzkörper-Rattenkostüm im Fernsehen auf und keiner zieht das irgendwie in
Zweifel, hinterfragt es oder erwähnt es auch nur. Nein, innerhalb der Handlung
wirkt dieses pikante Detail so natürlich, daß man auch als Zuschauer eine Weile
braucht, um die Absurdität der Situation überhaupt zu registrieren.
Etwas offensichtlicher, aber in seiner Wirkung (zumindest bei mir) noch
effektiver und amüsanter ist der von Eric Wareheim – dem Busenfetischisten-Cop
aus "Wrong Cops" – mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit verkörperte
Mann, der nach einiger Zeit ohne jeden Zusammenhang mit dem bis dahin Gezeigten
zielstrebig in Frauenkleidern in sein Auto steigt und gefühlt minutenlang durch
die Gegend fährt, ehe Dupieux einfach zur nächsten Szene mit den bereits bekannten
Figuren umblendet. Quentin Dupieuxs Fähigkeit, aus scheinbar jeder noch so banalen
Alltagssituation mit einem gedanklichen Fingerschnippen einen Ausbund an
Absurdität zu machen, ist schlicht und ergreifend unübertroffen. Da können vermutlich
noch nicht einmal Monty Python oder Luis Buñuel ganz mithalten!
Angesichts solch haarsträubender Eskapaden, die mutmaßlich die meisten jener Zuschauer,
die sich ohne konkretes Vorwissen über Dupieuxs Arbeiten und grotesken Humorstil
auf den Film eingelassen haben, in die Flucht schlagen, wirken die
Handlungsstränge rund um den ambitionierten Kameramann Jason und den
Regie-Exzentriker Zog beinahe konventionell. Denn nachdem Dupieux in
"Wrong Cops" bereits phasenweise die Musikindustrie zum Ziel einer
bissigen Satire machte, steht nun die Filmbranche im Fokus.
Selbstverständlich fällt Dupieuxs Blick auf die Branche aber ganz erheblich
abseitiger aus als es bei "normalen" Satiren über das Filmbusiness
(von denen es ja nicht wenige gibt) der Fall ist. Vor allem Produzent Bob, der
parallel mit Zogs divenhaftem Verhalten und dem enthusiastischen Vorgehen
des Anfängers Jason umgehen muß, wird zum Zentrum von Dupieuxs boshaften
und teils messerscharfen, teils einfach nur irren Beobachtungen über eine
notorisch selbstverliebte Branche. Dabei geht der Franzose zwar nicht
immer subtil vor, durch das exponentiell zunehmende Erzähltempo und die bemerkenswerte
Zielgenauigkeit der Gags und (Nicht-)Pointen geschieht es aber immer wieder, daß
man selbst die scheinbar plakativsten Attacken gar nicht direkt bemerkt – allen
voran Bobs eigentlich sehr offensichtlich absurdes Vorgehen, die Umsetzung
eines (sogar noch offensichtlicher total bescheuerten und nebenbei noch
als Frontalangriff auf große Teile des TV-Programms und seiner Zuschauer
genutzten) Films von nur einem einzigen Soundeffekt abhängig zu machen. Wobei diese
betriebswirtschaftlich wenig nachvollziehbare Entscheidung aber zu
jeder Menge köstlicher Situationskomik bei Jasons unermüdlicher Jagd nach dem
ultimativen Stöhnen führt. Sowohl die branchensatirischen wie auch die
"nur" durchgeknallten Handlungsstränge werden von Dupieux gekonnt miteinander verknüpft, zusammengehalten werden sie zudem von dem
einzigen Musikstück des gesamten Films: dem die Surrealität von
"Reality" perfekt unterstreichenden "Music With Changing Parts"
von Philip Glass.
Mir ist klar, daß das, was ich nun geschrieben habe, nicht
allzu kohärent ausgefallen ist (und ich die Titelfigur Reality nach der
Inhaltsangabe mit keinem Wort erwähnt habe – aber, um noch einmal auf meine
anfänglichen Dupieux-Bausteine zurückzukommen: deren Storyline muß man selber
gesehen haben, um sie voll würdigen zu können ...). Doch wie gesagt: Dupieux-Filme
angemessen zu rezensieren ist eine Kunst, die vermutlich nur die Wenigsten
beherrschen. So bleibt mir abschließend nur zu betonen, wie hervorragend
mir "Reality" gefallen hat. Vermutlich wird der Film angesichts seiner
verschiedenen Ebenen noch stärker polarisieren als Dupieuxs vorangegangene Werke, aber für mich ist er erzählerisch, stilistisch und humoristisch sein
bis dato stärkster Film.
Fazit: "Reality" ist ein komplexer Karneval
des extravaganten Humors, eine unnachahmlich einfallsreiche Zelebration des
Absurden sowie des vollkommenen und unabwendbaren Irrsinns, die von ihrem
Publikum allerhöchste Aufgeschlossenheit (und ein spezielles Humorverständnis)
erfordert.
Wertung: 9 Punkte.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger amazon.de-Bestellungen über einen der Links in den Rezensionen oder das amazon.de-Suchfeld in der rechten Spalte freuen.
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