Donnerstag, 19. November 2015

REALITY (2014)

Originaltitel: Réalité
Regie, Drehbuch und Musik (und Schnitt und Kamera): Quentin Dupieux
Darsteller: Alain Chabat, Jon Heder, Jonathan Lambert, Kyla Kenedy, Élodie Bouchez, John Glover, Eric Wareheim, Matt Battaglia, Lola Delon, Roxane Mesquida, Michel Hazanavicius
 Réalité
(2014) on IMDb Rotten Tomatoes: 64% (6,1); weltweites Einspielergebnis: $0,4 Mio.
FSK: 12, Dauer: 91 Minuten.
Jason Tantra (Alain Chabat, Julius Cäsar in "Asterix & Obelix: Mission Kleopatra") arbeitet als Kameramann bei einer TV-Kochshow, will aber als Regisseur und Autor einen eigenen Film drehen. Als er seine Idee dem Produzenten Bob Marshal (Jonathan Lambert, "Das verflixte 3. Jahr"), für den er früher gearbeitet hat, pitcht, ist dieser begeistert von der Story über auf der ganzen Welt bösartig werdende TV-Geräte, die ihre Zuschauer Tag für Tag dümmer machende (und schließlich tötende) Strahlen aussenden … Nur eines fehlt Bob noch, damit er den Film bewilligt: Jason muß ihm innerhalb zweier Tage eine Aufnahme des perfekten schmerzerfüllten Stöhnens besorgen, mit dem die TV-Opfer qualvoll aus dem Leben scheiden sollen. Bob muß sich parallel mit dem eigenwilligen Ex-Dokumentarfilmer Zog (John Glover, Lionel Luther in der TV-Serie "Smallville") herumschlagen, dessen extravagantes Spielfilmdebüt vielversprechend wirkt, Bob aber auch jede Menge Nerven kostet. Der Moderator der oben erwähnten Kochshow, Denis (Jon Heder, "Napoleon Dynamite"), hat derweil andere Probleme: Er leidet seit Tagen unter einem unerträglichen Juckreiz und fast seinen ganzen Körper bedeckenden Ausschlägen – die außer ihm aber niemand sieht! Und dann wäre da noch ein kleines Mädchen namens Reality (Kyla Kenedy, Mika in der 4. Staffel der TV-Serie "The Walking Dead"), das in den Innereien eines von ihrem Vater bei der Jagd erlegten Wildschweins eine komplett unverdaute Videokassette findet …

Kritik:
Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, Namen und Halbsätzen, auf die die Besprechung eines Films von Quentin Dupieux ("Wrong", "Wrong Cops", "Rubber") eigentlich nicht verzichten kann: Surreal, absurd, pythonesk, vollkommen und total durchgeknallt, Luis Buñuel, eigenwillig, skurril, nihilistisch, sehr spezieller Humor, das Gegenteil von Mainstream, muß man selber gesehen haben, schwer zu rezensieren. Alle diese Bausteine treffen auch auf den neuesten Streich des französischen Tausendsassas zu, wobei für mich als Rezensent der letzte davon natürlich ziemlich ärgerlich ist. Denn, ja, auch "Reality" ist unheimlich schwer zu rezensieren, was mich aber natürlich nicht davon abhält, es dennoch heldenhaft zu versuchen. Zumal es sich meiner Meinung nach un Dupieuxs bislang besten Film handelt (und seinen verrücktesten – und DAS will nun wirklich was heißen!).

Nachdem Dupieux sich in "Wrong Cops" zugunsten einer anekdotenhafteren Erzählweise fast vollständig von einer kohärenten Handlung verabschiedet hatte, geht "Reality" wieder stärker in Richtung "Wrong". Wobei die Story, die "Reality" erzählt, deutlich anspruchsvoller angelegt ist als alles, was Dupieux bisher fabriziert hat. Es mag im ersten Moment komisch klingen, aber als der Abspann gelaufen war, war mein erster Gedanke: Okay, jetzt weiß ich, wie "Inception" ausgesehen hätte, wenn ihn nicht Christopher Nolan gedreht hätte, sondern Quentin Dupieux. Das wollte ich zwar eigentlich nie wissen, jetzt bin ich trotzdem froh darüber. Wohlgemerkt, inhaltlich halten sich die Parallelen zwischen beiden Filmen erwartungsgemäß in sehr engen Grenzen, aber in einem entscheidenden Punkt ähneln sie einander überraschend stark: dem virtuosen (und potentiell höchst verwirrenden) Spiel mit ineinander verschachtelten Traum- oder Realitätsebenen. Während dieses Konzept bei "Inception" sehr früh etabliert wird, ist der noch annähernd "normal" beginnende "Reality" (wenig überraschend) zunächst viel undurchsichtiger in seiner Intention. Das mag ein wenig nach einem Spoiler klingen, aber keine Sorge: "Reality" ist dermaßen unvorhersehbar, daß auch das frühzeitige Wissen um verschiedene Erzählebenen nicht das Geringste an der Wirkung des Gezeigten ändert. Mal ganz abgesehen davon, daß im Grunde genommen bereits der Titel des Films diesen Nicht-Spoiler vorwegnimmt …

Denn wer glaubt, schon Dupieuxs vorherige Werke seien unfaßbar absurd und skurril gewesen, der hat damit zwar vollkommen Recht; "Reality" übertrifft sie dennoch bei weitem! Da tritt der Moderator einer Kochshow wie selbstverständlich ausgerechnet im Ganzkörper-Rattenkostüm im Fernsehen auf und keiner zieht das irgendwie in Zweifel, hinterfragt es oder erwähnt es auch nur. Nein, innerhalb der Handlung wirkt dieses pikante Detail so natürlich, daß man auch als Zuschauer eine Weile braucht, um die Absurdität der Situation überhaupt zu registrieren. Etwas offensichtlicher, aber in seiner Wirkung (zumindest bei mir) noch effektiver und amüsanter ist der von Eric Wareheim – dem Busenfetischisten-Cop aus "Wrong Cops" – mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit verkörperte Mann, der nach einiger Zeit ohne jeden Zusammenhang mit dem bis dahin Gezeigten zielstrebig in Frauenkleidern in sein Auto steigt und gefühlt minutenlang durch die Gegend fährt, ehe Dupieux einfach zur nächsten Szene mit den bereits bekannten Figuren umblendet. Quentin Dupieuxs Fähigkeit, aus scheinbar jeder noch so banalen Alltagssituation mit einem gedanklichen Fingerschnippen einen Ausbund an Absurdität zu machen, ist schlicht und ergreifend unübertroffen. Da können vermutlich noch nicht einmal Monty Python oder Luis Buñuel ganz mithalten!

Angesichts solch haarsträubender Eskapaden, die mutmaßlich die meisten jener Zuschauer, die sich ohne konkretes Vorwissen über Dupieuxs Arbeiten und grotesken Humorstil auf den Film eingelassen haben, in die Flucht schlagen, wirken die Handlungsstränge rund um den ambitionierten Kameramann Jason und den Regie-Exzentriker Zog beinahe konventionell. Denn nachdem Dupieux in "Wrong Cops" bereits phasenweise die Musikindustrie zum Ziel einer bissigen Satire machte, steht nun die Filmbranche im Fokus. Selbstverständlich fällt Dupieuxs Blick auf die Branche aber ganz erheblich abseitiger aus als es bei "normalen" Satiren über das Filmbusiness (von denen es ja nicht wenige gibt) der Fall ist. Vor allem Produzent Bob, der parallel mit Zogs divenhaftem Verhalten und dem enthusiastischen Vorgehen des Anfängers Jason umgehen muß, wird zum Zentrum von Dupieuxs boshaften und teils messerscharfen, teils einfach nur irren Beobachtungen über eine notorisch selbstverliebte Branche. Dabei geht der Franzose zwar nicht immer subtil vor, durch das exponentiell zunehmende Erzähltempo und die bemerkenswerte Zielgenauigkeit der Gags und (Nicht-)Pointen geschieht es aber immer wieder, daß man selbst die scheinbar plakativsten Attacken gar nicht direkt bemerkt – allen voran Bobs eigentlich sehr offensichtlich absurdes Vorgehen, die Umsetzung eines (sogar noch offensichtlicher total bescheuerten und nebenbei noch als Frontalangriff auf große Teile des TV-Programms und seiner Zuschauer genutzten) Films von nur einem einzigen Soundeffekt abhängig zu machen. Wobei diese betriebswirtschaftlich wenig nachvollziehbare Entscheidung aber zu jeder Menge köstlicher Situationskomik bei Jasons unermüdlicher Jagd nach dem ultimativen Stöhnen führt. Sowohl die branchensatirischen wie auch die "nur" durchgeknallten Handlungsstränge werden von Dupieux gekonnt miteinander verknüpft, zusammengehalten werden sie zudem von dem einzigen Musikstück des gesamten Films: dem die Surrealität von "Reality" perfekt unterstreichenden "Music With Changing Parts" von Philip Glass.

Mir ist klar, daß das, was ich nun geschrieben habe, nicht allzu kohärent ausgefallen ist (und ich die Titelfigur Reality nach der Inhaltsangabe mit keinem Wort erwähnt habe – aber, um noch einmal auf meine anfänglichen Dupieux-Bausteine zurückzukommen: deren Storyline muß man selber gesehen haben, um sie voll würdigen zu können ...). Doch wie gesagt: Dupieux-Filme angemessen zu rezensieren ist eine Kunst, die vermutlich nur die Wenigsten beherrschen. So bleibt mir abschließend nur zu betonen, wie hervorragend mir "Reality" gefallen hat. Vermutlich wird der Film angesichts seiner verschiedenen Ebenen noch stärker polarisieren als Dupieuxs vorangegangene Werke, aber für mich ist er erzählerisch, stilistisch und humoristisch sein bis dato stärkster Film.

Fazit: "Reality" ist ein komplexer Karneval des extravaganten Humors, eine unnachahmlich einfallsreiche Zelebration des Absurden sowie des vollkommenen und unabwendbaren Irrsinns, die von ihrem Publikum allerhöchste Aufgeschlossenheit (und ein spezielles Humorverständnis) erfordert.

Wertung: 9 Punkte.


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