Mittwoch, 22. Juni 2022

TOD AUF DEM NIL (2022)

Originaltitel: Death on the Nile
Regie: Kenneth Branagh, Drehbuch: Michael Green, Musik: Patrick Doyle
Darsteller: Kenneth Branagh, Gal Gadot, Armie Hammer, Tom Bateman, Annette Bening, Ali Fazal, Emma Mackey, Sophie Okonedo, Letitia Wright, Russell Brand, Rose Leslie, Jennifer Saunders, Dawn French, Susannah Fielding
Tod auf dem Nil (2022) on IMDb Rotten Tomatoes: 61% (5,9); weltweites Einspielergebnis: $137,3 Mio.
FSK: 12, Dauer: 127 Minuten.
Wir schreiben das Jahr 1937: Der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh, "Dunkirk") macht gerade Urlaub in Ägypten, wo er unverhofft auf seinen alten Freund Bouc (Tom Bateman, "Hard Powder") trifft. Dieser ist einer der Gäste auf der luxuriösen Hochzeitsreise der steinreichen Linnet Ridgeway (Gal Gadot, "Wonder Woman") mit Simon Doyle (Armie Hammer, "Lone Ranger"). Zu den weiteren Gästen zählen etwa Boucs Mutter Euphemia (Annette Bening, "The Report") und die Jazz-Sängerin Salome Otterbourne (Sophie Okonedo, "Hotel Ruanda") mit ihrer Nichte und Agentin Rosalie (Letitia Wright, "Black Panther"). Als Simons Ex-Verlobte – und zugleich Linnets ehemalige beste Freundin – Jacqueline "Jackie" de Bellefort (Emma Mackey, "Eiffel in Love") auftaucht und einen kleinen Eklat verursacht, beschließen Linnet und Simon, die Reise auf dem Flußdampfer "Karnak" auf dem Nil fortzusetzen, wohin Jackie ihnen nicht folgen kann. Auf Bitten des Brautpaars schließt sich Poirot der Reisegesellschaft an – und muß schon bald sein Können beweisen, als ein heimtückischer Mord verübt wird. Mit dem gewohnten Scharfsinn und unbestechlicher Kombinationsgabe geht Poirot der Angelegenheit nach. Doch unglücklicherweise hat so ziemlich jeder der Anwesenden ein mehr oder weniger überzeugendes Tatmotiv und einige haben kein Alibi. Es soll auch nicht der einzige Mord an Bord des Schiffes bleiben ...

Kritik:
Nach dem unerwartet großen Erfolg von Sir Kenneth Branaghs Poirot-Reboot "Mord im Orient Express" im Jahr 2017 – die Produktionskosten von $55 Mio. wurden im Einspielergebnis trotz eher mediokrer Kritiken um mehr als das Sechsfache übertroffen! – sollte bereits zwei Jahre später der nächste Poirot-Fall "Tod auf dem Nil" in die Kinos kommen. Doch dieser Zeitplan erwies sich als etwas zu ehrgeizig, weshalb die Agatha Christie-Adaption zunächst um ein Jahr auf Weihnachten 2020 verschoben wurde – und damit genau in die Hochphase der Corona-Pandemie fiel, was mehrere weitere Verschiebungen nach sich zog. Da zwischenzeitlich auch noch mit Armie Hammer einer der Hauptdarsteller wegen Vorwürfen sexueller Belästigung in öffentliche Ungnade fiel und seine Figur für die Handlung zu wichtig war, um einfach umbesetzt oder rausgeschnitten zu werden, verzögerte sich der Kinostart weiter, bis es im Februar 2022 endlich so weit war. Die lange Wartezeit wirkte sich im Verbund mit dem relativ ungünstigen Starttermin (der Vorgänger wurde im lukrativen Weihnachtsgeschäft plaziert) jedoch ziemlich negativ aus, diesmal gelang trotz sehr ähnlicher Rezensionen nicht einmal eine Verdopplung des auf $90 Mio. angestiegenen Budgets (die allgemein als mindestens notwendig angesehen wird, um nach Abzug aller Kosten in die Gewinnzone zu kommen). Dies hätte das schnelle Ende der Reihe bedeuten können, allerdings scheint das produzierende Studio 20th Century an der Marke festhalten zu wollen und hat "Tod auf dem Nil"-Autor Michael Green bereits mit einem weiteren Drehbuch beauftragt, das erstmals in der Reihe auf einer noch nicht fürs Kino verfilmten Geschichte von Agatha Christie basieren soll. Es bleibt zu hoffen, daß es tatsächlich weitergeht, denn wenngleich "Tod auf dem Nil" aufgrund einer zu sehr in die Länge gezogenen ersten Filmhälfte nicht ganz den Unterhaltungsfaktor von "Mord im Orient Express" erreicht, macht Branaghs Interpretation des belgischen Meisterdetektivs nach wie vor Spaß und bleibt neben der ausgesprochen eleganten Inszenierung der primäre Erfolgsfaktor der Reihe.

Ich bin ein großer Fan von Sir Peter Ustinovs Darstellung des Hercule Poirot als gutmütige, verschmitzte, großväterliche Spürnase, aber Branaghs gänzlich andere Interpretation gefällt mir vielleicht sogar noch besser. Bei ihm ist Poirot melancholisch (den wenig überraschenden Grund dafür erfahren wir diesmal im Prolog und einem späteren Gespräch), selbstverliebt und herrisch, was es nicht so einfach macht, ihn ins Herz zu schließen. Doch Branaghs Charisma und seine Schauspielkunst, die einen stets die Verletzlichkeit hinter Poirots kühl-profesioneller Fassade erahnen läßt, sorgen ebenso wie die geniale Kombinationsgabe dafür, daß man doch mit ihm mitfiebert. Bedauerlicherweise kommt es dazu hier jedoch erst in der zweiten Hälfte der zweistündigen Laufzeit, denn das Drehbuch von Michael Green ("Blade Runner 2049") nimmt sich eine geschlagene Stunde Zeit, um das Ensemble an Verdächtigen und die Konstellation der einzelnen Personen untereinander einzuführen, ehe es zum ersten Mord kommt. Und das ist trotz der prachtvollen Ägypten-Bilder (die aufwendig angefertigte und mit CGI angereicherte Studiokulissen zeigen, denn entgegen der ursprünglichen Planung wurde lediglich in England gedreht) und der eleganten, stimmungsvollen Musik von Patrick Doyle ("Cinderella") einfach zu viel Zeit. Hinzu kommt das Problem, daß Greens Drehbuch die Verdächtigen nicht sonderlich interessant zeichnet. Das fällt gerade im Vergleich zur hervorragenden und wohl werktreueren (ich selbst habe nie einen Christie-Roman gelesen, wie ich gestehen muß) "Tod auf dem Nil"-Adaption von John Guillermin aus dem Jahr 1978 auf (mein Lieblings-Ustinov-Poirot-Film), bei der die meisten Figuren erheblich schillernder ausfallen. Green hat die Charaktere teils sogar ziemlich radikal verändert, doch funktioniert das nicht allzu gut – außer vielleicht bei Salome Otterbourne, die als Jazz-Sängerin sicher nicht weniger interessant ist als die ursprüngliche Erotik-Schriftstellerin und zudem den Film durch ihre Auftritte atmosphärisch und musikalisch bereichert. Die Mehrzahl der übrigen Figuren fällt dagegen ziemlich unauffällig aus und auch die Besetzung kann, obwohl sehr solide, qualitativ nicht mit dem denkwürdigen Cast des 1978er-Films (in dem u.a. die Leinwand-Legenden Bette Davis, Maggie Smith, Angela Lansbury, David Niven, Jane Birkin und Mia Farrow agierten) mithalten.

Daß sich die erste Filmhälfte arg in die Länge zieht, fällt auch deswegen auf, weil "Tod auf dem Nil" kaum Actionszenen beinhaltet. Zeichnete sich "Mord im Orient Express" im Vergleich zu früheren Verfilmungen noch gerade durch ein höheres Tempo und mehr Actionsequenzen aus, wurde dieser Aspekt in der Fortsetzung beinahe komplett fallengelassen (ebenso übrigens wie Poirots in "Mord im Orient Express" angedeuteter Autismus - interessanterweise wurden zwar einige entsprechende Szenen gedreht, dann aber doch wieder rausgeschnitten). Und da auch noch der Humor in den Dialogen stark in den Hintergrund rückt, bleibt "Tod auf dem Nil" eine Stunde lang eine toll aussehende und atmosphärisch überzeugende, aber inhaltlich ziemlich triste bis langweilige Angelegenheit, die man bestimmt um 20 oder 30 Minuten hätte kürzen können. Zum Glück ändert sich das mit dem ersten Mord, denn sobald Poirot seiner Arbeit nachgehen darf, laufen er und das Drehbuch zur Hochform auf und obwohl es weiterhin kaum Action gibt, wird das durch maschinengewehrschnelle und clever inszenierte Dialogeduelle und kombinatorische Poirot-Monologe (wenn die Kamera etwa Poirot dabei folgt, wie er während eines seiner Monologe den Verdächtigen umkreist wie ein Raubtier seine Beute) wettgemacht. Positiv wirkt sich außerdem aus, daß der Fall gerade deshalb, weil seine Auflösung nicht ganz so spektakulär ist wie die von "Mord im Orient Express", für das Publikum relativ schwer zu lösen ist (sofern man die Vorlage nicht kennt). Obwohl ich die Ustinov-Version liebe, hatte ich beispielsweise keine Ahnung mehr, wer Mordopfer und Täter sein würden, was das Miträtseln natürlich deutlich spaßiger macht. Und obwohl wahrscheinlich viele Zuschauer, wie ich, noch vor Poirot auf die Auflösung kommen werden, bleibt es bis zuletzt spannend, weil erst der belgische Meisterdetektiv sämtliche offenen Fragen beantworten und genau erklären kann, wie und warum alles geschah. Daß der Nildampfer selbst insgesamt weniger in die Story und die Inszenierung involviert ist als der Zug in "Mord im Orient Express", ist dabei bedauerlich, aber verkraftbar. Denn letztlich lebt der Film von seiner von Branagh wiederum vorzüglich gespielten Hauptfigur, zumal diese vom Verlauf des Mordfalles unerwartet persönlich betroffen ist. Gerne mehr von diesem Detektiv, wenn auch in Zukunft bitte mit einem noch besseren Drehbuch mit spannenderen Nebenfiguren.

Fazit: "Tod auf dem Nil" ist wie sein Vorgänger ein bewußt altmodischer und äußerst elegant inszenierter Whodunit-Krimi mit einem tollen Protagonisten, der allerdings nach einem unnötig zähen Auftakt erst in der zweiten Hälfte voll zur Geltung kommt.

Wertung: 7 Punkte (5,5 für die erste Hälfte, 8,5 für die zweite).
 
 
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