Donnerstag, 30. Juni 2022

NIGHTMARE ALLEY (2021)

Regie: Guillermo del Toro, Drehbuch: Guillermo del Toro, Kim Morgan, Musik: Nathan Johnson
Darsteller: Bradley Cooper, Rooney Mara, Cate Blanchett, Richard Jenkins, David Strathairn, Toni Collette, Willem Dafoe, Ron Perlman, Mark Povinelli, Holt McCallany, Mary Steenburgen, Peter MacNeill, Paul Anderson, Jim Beaver, David Hewlett, Tim Blake Nelson, Clifton Collins Jr., Lara Jean Chorostecki, Stephen McHattie, Romina Power
Nightmare Alley (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 80% (7,4); weltweites Einspielergebnis: $39,6 Mio.
FSK: 16, Dauer: 151 Minuten.
USA, Ende der 1930er Jahre: Stanton "Stan" Carlisle (Bradley Cooper, "A Star Is Born") heuert beim fahrenden Zirkus von Bruno (Ron Perlman, "Don't Look Up") an. Zunächst hilft er nur aus, doch bald nehmen ihn der alkoholkranke Pete (David Strathairn, "Lincoln") und seine Frau, die Wahrsagerin Madame Zeena (Toni Collette, "Stowaway"), unter ihre Fittiche. Von den beiden lernt Stan die Kunst eines Mentalisten: durch genaue Beobachtungsgabe und ein paar Tricks überzeugend vorzugeben, Gedanken lesen und mit den Toten sprechen zu können. Als Stan glaubt, daß er alles gelernt hat, was nötig ist, verläßt er den Zirkus gemeinsam mit Molly Cahill (Rooney Mara, "Carol") und gemeinsam führen sie ihre Tricks einem gehobenen Publikum in New York vor, was sich als recht einträglich erweist. Als Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett, "Blue Jasmine") bei einer Vorstellung von "The Great Stanton" versucht, ihn als Betrüger zu entlarven, kontert Stan das meisterhaft und weckt so das Interesse der angesehenen Psychiaterin. Stan schlägt ihr eine Zusammenarbeit vor: Lilith verrät ihm Details von Sitzungen mit ihren Patienten, die dieser nutzt, um ihnen mit seinen "übernatürlichen Fähigkeiten" das Geld aus der Tasche zu ziehen. So auch bei dem ebenso reichen wie gefährlichen Ezra Grindle (Richard Jenkins, "The Cabin in the Woods") ...

Kritik:
Der zweifache OSCAR-Gewinner Guillermo del Toro ist seit jeher ein Meister der Atmosphäre. Bereits seine frühen spanischsprachigen Filme "Cronos" und "The Devil's Backbone" leben von einer faszinierenden, intensiven und düsteren Stimmung, die im Jahr 2006 im grandiosen "Pans Labyrinth" kulminierte. In Hollywood blieb del Toro seinem Stil weitgehend treu, wenn auch speziell in seinen actionbetonteren Filmen wie "Pacific Rim" nicht mehr ganz so stark. Doch eines war immer klar: Ein Film von Guillermo del Toro sieht grandios aus (und klingt meistens auch so), atmet eine ungemein dichte Atmosphäre und ist stark besetzt. Damit bleibt ein nicht unwichtiger Punkt, der zwischen einem richtig guten und einem nicht so guten del Toro-Film entscheidet: die Handlung. Del Toro ist bei jeder seiner Regiearbeiten mindestens am Drehbuch beteiligt, manchmal ist er der alleinige Autor. Leider können nicht alle Drehbücher qualitativ mit seinen handwerklichen Fähigkeiten mithalten. Und so stehen vielfach ausgezeichete Werke wie "Pans Labyrinth", "Hellboy 2" oder "Shape of Water" mittelmäßigen bis soliden Produktionen wie "Mimic", "Pacific Rim" oder "Crimson Peak" gegenüber. Als bekannt wurde, daß del Toros nächster Film eine Verfilmung von William Lindsay Greshams Noir-Roman "Nightmare Alley" werden würde – eine sehr gut beleumundete erste Adaption von Edmund Goulding kam bereits 1947 unter dem deutschen Titel "Der Scharlatan" in die Kinos –, war ich gespannt. Immerhin ist dies tatsächlich del Toros erster Film ohne jeglichen (bei den Aliens in "Pacific Rim" und der Wasserkreatur in "Shape of Water" im weiteren Sinne) übernatürlichen Aspekt und das auch noch in einem Genre, das ich sehr mag. Und obwohl "Nightmare Alley" in Wirklichkeit eher ein Drama mit Film noir-Elementen ist (die erst in der zweiten Hälfte richtig zum Tragen kommen) als ein "echter" Film noir, ist Guillermo del Toro zum wiederholten Male ein atmosphärisches Wunderwerk gelungen – dessen gemeinsam mit seiner Gattin, der Filmjournalistin Kim Morgan geschriebenes Drehbuch dummerweise zu seinen schwächeren zählt.

Am besten läßt sich "Nightmare Alley" wohl mit del Toros Gothic-Schauermär "Crimson Peak" vergleichen. Beide Filme bauen eine selbst für del Toros Verhältnisse extrem dichte Stimmung mit traumhaften Bildkompositionen auf. Und bei beiden Werken kann das Drehbuch nicht mit den Bildern des dänischen Kameramannes Dan Laustsen ("Silent Hill") mithalten, da eine im Kern recht simple Handlung viel zu langatmig erzählt wird nicht ohne Grund war die erste Verfilmung des Buches 40 Minuten kürzer und die Figurenzeichnung zu oberflächlich bleibt. Dabei ist es fast schon beeindruckend, wie blaß die meisten Charaktere ausfallen, obwohl sich del Toro zunächst eigentlich jede Menge Zeit nimmt, um sie vorzustellen. Denn die gesamte erste der zweieinhalb Stunden spielt sich im fahrenden Zirkus ab und das Aufregendste, was hier passiert, ist eine Razzia durch einen gottesfürchtigen und zirkushassenden lokalen Sheriff ("Supernatural"-Star Jim Beaver). Ansonsten widmet sich "Nightmare Alley" in dieser Phase durchaus hingebungsvoll der Gruppierung schräger Außenseiter, bei denen Stan schnell seinen Platz findet und von denen er viel lernt. Dank der Besetzung mit Könnern wie Willem Dafoe, Toni Collette, Ron Perlman oder David Strathairn sieht man dabei gerne zu, obwohl "Nightmare Alley" in dieser ersten Stunde tatsächlich kaum mehr als ein altmodisches, wenn auch stark inszeniertes und latent unheildräuendes Zirkusdrama ist, in dem sich nur wenig ereignet. Und trotz starker, nachhallender Einzelszenen (etwa einem Gespräch zwischen Stan und dem von Willem Dafoe verkörperten Clem über das "Zähmen" eines sogenannten Geeks) kommt man den Figuren emotional kaum näher. Etwas mehr Spannung ergibt sich erst mit Stan und Mollys Abschied vom Zirkus, der mit einem Zeit- und Ortssprung einhergeht (und leider auch bedeutet, daß die übrigen Zirkusleute fast komplett aus dem Film verschwinden).

Vom in kleinstädtischen, ruralen Gebieten auftretenden Zirkus mit den exzentrischen Gestalten geht es zwei Jahre später in die Großstadt und Finanzmetropole New York, in der es ebenso glamourös wie anonym zugeht. Das Publikum von Stans Mentalisten-Nummer ist wesentlich eleganter und spendierfreudiger, läßt sich aber genauso leicht von Stans Tricks (mit Mollys Hilfe) manipulieren wie die einfachen Leute auf dem Lande. Stan und Molly könnten also eine gutes, vergleichsweise unkompliziertes Leben führen – wäre da nicht Stans unstillbare Gier nach mehr. Bedauerlicherweise läßt die sich nicht wirklich nachvollziehen, weil Bradley Cooper Stan zwar sehr überzeugend und ambivalent verkörpert, man der Figur als Zuschauer aber trotzdem kaum näherkommt. Es bleibt stets eine gewisse Distanz gewahrt und es fällt schwer, mit jemandem mitzufiebern, dessen wahre Gefühlswelt und Motivation sich kaum verstehen lassen. Stan ist ein getriebener Mensch, der ziemlich skrupellos ist, ohne dabei ein echter Bösewicht zu sein – aber warum das so ist, bleibt (trotz weniger sehr kurzer Einblicke in seine Vergangenheit) unklar. Auch die von Rooney Mara sympathisch als eher einfaches Mädchen mit einfachen Wünschen und Zielen portraitierte Molly kann nicht viel Profil entwickeln und Cate Blanchetts Dr. Ritter bleibt sowieso ein Rätsel – was angesichts ihrer Funktion als klassische Femme fatale jedoch so gewollt sein dürfte. Für eine solche Femme fatale ist Cate Blanchett aber definitiv die perfekte Besetzung, sie spielt ihren Part in bester Lauren Bacall-Tradition als rätselhafte, elegant-unterkühlte Dame, die ihre ganz eigenen Pläne verfolgt. Insgesamt ergibt das ein Panoptikum von Figuren, die mir als Zuschauer schlicht und ergreifend egal sind. Und es hilft auch nicht, daß Stans Konfrontation mit dem mißtrauischen Ezra Grindle zwar mächtig aufgebauscht wird, letztlich aber doch ziemlich banal ist und arg vorhersehbar abläuft. Da kann alles noch so atmosphärisch sein und von faszinierenden Bilderwelten mit raffiniertem Licht- und Schattenspiel begleitet werden; wenn die Story nicht mitreißt, erzielt das eben nur einen Teil der möglichen und gewünschten Wirkung. Und damit bleiben unter dem Strich zweieinhalb Stunden, die verdammt gut aussehen und deren handwerkliche und schauspielerische Qualität sich aufrichtig bewundern läßt – trotzdem läßt "Nightmare Alley" mich enttäuschend kalt. Zum Schluß sei noch erwähnt, daß es zusätzlich zur in den Kinos gezeigten "normalen" Version bei Disney+ eine Schwarzweiß-Fassung des Films gibt, die Guillermo del Toro bevorzugt und die naturgemäß noch stärker an die großen Film noir-Vorbilder erinnert.

Fazit: "Nightmare Alley" ist ein handwerklich herausragend inszeniertes, atmosphärisches und glänzend besetztes historisches Thriller-Drama mit Film noir-Elementen, das sich mit seiner eher dünnen Geschichte viel zu viel Zeit läßt und dessen Figuren dem Publikum weitgehend fremd bleiben.

Wertung: 6,5 Punkte.
 
 
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