Originaltitel: Le tout nouveau testament
Regie und Drehbuch: Jaco van Dormael und Thomas Gunzig, Musik: An Pierlé
Darsteller: Pili Groyne, Benoît Poelvoorde, Yolande Moreau,
Catherine Deneuve, David Murgia, Marco Lorenzini, François Damiens, Laura
Verlinden, Romain Gelin, Serge Larivière, Didier De Neck, Anna Tenta
FSK: 12, Dauer: 115 Minuten.
Gott existiert. Er (Benoît Poelvoorde, "Nichts zu
verzollen") lebt in Brüssel in einer schäbigen Plattenbauwohnung, in der
er an seinem alten Computer beständig fiese neue Gebote für die Menschheit austüftelt, die er lediglich als ein Instrument zu seiner Unterhaltung erschaffen hat.
Seine Fau (Yolande Moreau, "Die fabelhafte Welt der Amélie") tut
beinahe apathisch alles, was Gott ihr anschafft, während der erwachsene Sohn Jesus
(David Murgia, "Bullhead") schon lange ausgezogen ist und nur manchmal mit seiner erst zehn Jahre alten, weit weniger bekannten Schwester Éa (Pili Groyne,
"Zwei Tage, eine Nacht") kommuniziert. Als die optimistische Éa
endgültig genug von ihrem tyrannischen Vater hat, offenbart ihr Jesus, wie sie der
Wohnung entkommen kann, die weder sie noch ihre Eltern jemals verlassen haben. Und
so bricht Éa auf, jedoch nicht, ehe sie die Todesdaten aller Menschen per SMS
verschickt hat, um so Gottes sadistische Spielchen zu durchkreuzen. Draußen in
der Welt will Éa auf Jesus' Anraten sechs neue Apostel finden, deren
Geschichten ein brandneues Testament füllen sollen …
Kritik:
Jaco van Dormael ist so ein bißchen der belgische Terrence
Malick ("The Tree of Life"): ein gefeierter Filmemacher mit einem
feinen Gespür für originelle Stoffe und einem ganz eigenen Stil, der aber nur
alle Jubeljahre mal einen neuen Film dreht. Gut, bei Malick hat sich das auf
seine alten Tage ein bißchen verändert (worunter jedoch die Qualität seiner
Werke leidet), doch van Dormael bleibt weiterhin sparsam im Ausstoß seiner Langfilme. Und so ist "Das brandneue Testament" erst sein dritter Kinofilm nach seinem gefeierten Debüt mit "Toto der Held" im
Jahr 1991 (es folgten fünf Jahre darauf "Am achten Tag" und 2009 sein
englischsprachiger Erstling "Mr. Nobody"). Seinem Stil bleibt van
Dormael auch hier weitestgehend treu, die Zuschauer erwartet eine schrullige, bittersüße Tragikomödie, wobei die humoristischen Elemente diesmal
überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind.
Allerdings ist das bei weitem nicht so stark der Fall, wie
es der Film-Trailer suggeriert, der im Grunde genommen wieder einmal klassischer
Etikettenschwindel ist. Denn von der bissigen Religionssatire, die man auch
angesichts der Prämisse erwartet, bleibt im Film gar nicht so viel übrig.
Vielmehr stehen fast in der Art eines Episodenfilms die individuellen
Geschichten der sechs neuen Apostel im Mittelpunkt, die Éa nach und nach
besucht. Gott fungiert größtenteils als Comic Relief, was durchaus
funktioniert, da es einfach amüsant ist, wenn der Schöpfer in Benoît Poelvoordes
Darstellung ein beständig unflätig vor sich hin fluchender, fieser alter Sack
ist – dessen sadistische Gebote sich gegen ihn wenden, als er
zum ersten Mal selbst unter die Menschen geht, um seine aufsässige Tochter
zurückzuholen. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß da mehr an erzählerischem
und ebenfalls (feinsinnigerem) humoristischen Potential drin gewesen wäre; doch van
Dormael ging es offensichtlich nicht wirklich um Religionskritik (wie etwa in der
satirischen, aber wütenden Anklage "In the Name of the Son" seines Landsmannes Vincent Lannoo). Natürlich ist seine Präsentation von Gott und
seiner Familie (allein deren Existenz!) höchst blasphemisch, aber ich denke, daß das nur Strenggläubige wirklich stören dürfte – und die werden sowieso
kaum über einen Film wie diesen stolpern.
Im Zentrum von "Das brandneue Testament" stehen
also die sechs neuen Apostel, und auf die verwendet van Dormael deutlich mehr
Mühe als auf den (zweifellos lustigen, aber eben völlig oberflächlichen) Nebenhandlungsstrang
um Gott. Die allesamt angenehm zurückhaltend, aber überzeugend verkörperten, sehr
unterschiedlichen Apostel – darunter eine traurige einarmige Schönheit (Laura
Verlinden, "Loft – Tödliche Affären"), ein schüchterner Sexbesessener (Serge
Larivière, "Séraphine"), ein Spießer mit mörderischen
Trieben (François Damiens, "Verstehen Sie die Béliers?") und ein
todgeweihter Junge, der gern Kleider trägt (Romain Gelin) – erzählen Éa bereitwillig ihre von Kummer
durchzogenen Lebensgeschichten, die der von Éa zu ihrem Schreiber bestimmte
Obdachlose Victor (Marco Lorenzini, "Die dunkle Seite des Mondes") trotz
gewisser Rechtschreibschwächen zuverlässig notiert. So entsteht nach und nach
das von Éa erwünschte "brandneue Testament", mit dem sie ihrem Vater
in die Quere kommen will. Wie genau das funktionieren soll, erfahren wir nicht; auch
Éa selbst weiß es nicht, sie handelt eher instinktiv. Daß es (irgendeine) Wirkung zeitigt, erkennen wir daran, daß in einem kleineren Replikat von Leonardo da Vincis "Das Abendmahl" in Gottes Wohnung zum Erstaunen seiner Frau immer neue Apostel auftauchen ...
Realistisch wirkt es nicht, wie schnell und
bereitwillig die neuen Apostel Éa ihre Geschichte glauben und ihr alles von
sich erzählen, doch um Realitätsnähe geht es van Dormael sowieso nicht. Das
merkt man besonders daran, für wie wenig Aufruhr die Bekanntgabe der
Todesdaten sorgt, selbst nachdem klar ist, daß sie der Wahrheit entsprechen. In
Wirklichkeit ginge es in einem solchen Fall garantiert wesentlich chaotischer
zu als in "Das brandneue Testament". Doch Jaco van Dormael will eine
optimistische, wenngleich mit einer gewissen Schwermut durchzogene Geschichte
erzählen; eine Geschichte zudem, die voller liebenswerter Skurrilität ist und
in ihrem Tonfall immer wieder an Jean-Pierre Jeunets "Die fabelhafte Welt
der Amélie" oder auch an die Filme des berühmten Surrealisten Luis Buñuel
("Der diskrete Charme der Bourgeoisie") erinnert. Die Storys der
einzelnen Apostel sind einfach wunderbar umgesetzt, sehr gefühlvoll, sehr
schräg und sehr einfallsreich. Da ersetzt einer der Apostel, eine zutiefst
gelangweilte Ehefrau, schon mal ihren Gatten durch einen beeindruckenden Zirkus-Gorilla
– was umso köstlicher ist, als diese Frau von keiner Geringeren als
dem französischen Weltstar Catherine Deneuve ("Das Schmuckstück")
verkörpert wird! Bemerkenswert ist zudem, wie detailverliebt und penibel van
Dormael die einzelnen Szenen komponiert und mit welch großer Empathie er die
Geschichten seiner ganz und gar unheroischen Protagonisten erzählt und immer
wieder skurrile Details einstreut (beispielsweise setzte Jesus auf 12 Apostel,
weil das der Größe eines Hockey-Teams entspricht …). Auch den tollen
Soundtrack setzt van Dormael perfekt ein, um den bittersüßen Tonfall seines
Films zu unterstreichen; größtenteils ergibt sich die Musik aus den
"inneren Melodien" der Apostel, die Éa hören kann und deren
Bandbreite von Händel und Bach über Zirkusmusik bis zu dem wunderschönen,
sehnsuchtsvollen Chanson "La mer" von Charles Trenet reicht (international
vermutlich bekannter in der englischsprachigen Version "Beyond the
Sea" von Bobby Darin). Und wenn in den Träumen, die Éa ihren
Aposteln schickt, eine Hand auf dem Tisch tanzt oder ein bis auf die Gräten
verspeister Fisch ebenjenes "La mer" singt, dann kann man nicht anders als die Kunstfertigkeit dieses großen belgischen Filmemachers zu
bewundern.
Fazit: "Das brandneue Testament" verschenkt
zwar das Potential als Religionssatire, überzeugt aber als leicht episodisch
angelegte, märchenhafte und liebenswert-verschrobene Tragikomödie über einige
einsame Menschen (und einen Vogel), die mit ein wenig Hilfe von oben ihren
Platz im Leben finden.
Wertung: 8 Punkte.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger amazon.de-Bestellungen über einen der Links in den Rezensionen oder das amazon.de-Suchfeld in der rechten Spalte freuen.
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