Donnerstag, 15. Oktober 2015

SICARIO (2015)

Regie: Denis Villeneuve, Drehbuch: Taylor Sheridan, Musik: Jóhann Jóhannson
Darsteller: Emily Blunt, Benicio del Toro, Josh Brolin, Daniel Kaluuya, Victor Garber, Jeffrey Donovan, Jon Bernthal, Raoul Trujillo, Maximiliano Hernández, Bernardo P. Saracino, Julio Cedillo
Sicario
(2015) on IMDb Rotten Tomatoes: 92% (8,1); weltweites Einspielergebnis: $85,0 Mio.
FSK: 16, Dauer: 122 Minuten.

Kate Macer (Emily Blunt, "Edge of Tomorrow") ist eine taffe und erfahrene FBI-Agentin, doch daß sie und ihr Team beim Versuch einer Geiselbefreiung in Arizona anstelle der erwarteten Geiseln Dutzende teilweise seit Jahren verwesende Leichen hinter den Wänden des Hauses entdecken, hätte sie wirklich nicht erwartet. Immerhin gerät sie durch den grausigen Fund ins Visier des undurchsichtigen Matt Graver (Josh Brolin, "Everest"), der sich offiziell als "Berater des Verteidigungsministers" ausgibt, jedoch in Wirklichkeit zur CIA gehört. Graver und sein schweigsamer Kollege Alejandro (Benicio del Toro, "Inherent Vice") jagen den unbekannten Boß eines Drogenkartells, das auch für die von Kate aufgedeckten Morde verantwortlich ist. Dafür stellen sie eine Spezialeinheit zusammen, zu der auch Kate als Verbindungsperson zum FBI gehören soll. Da Kate unbedingt die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen will, willigt sie ein, obwohl Graver ihr kaum Details über den geplanten Einsatz offenbart. Das hat seine Gründe, denn die Spezialeinheit agiert im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet jenseits der gesetzlichen Vorgaben, was für eine Idealistin wie Kate nur schwer zu ertragen ist. So stellt sich ihr schon bald die Frage: Was ist ihr wichtiger – die Einhaltung der Gesetze oder das Erbringen von echten, zählbaren Resultaten?

Kritik:
Nachdem der kanadische Regisseur Denis Villeneuve mit seinem düsteren Thriller "Prisoners" mit Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal 2013 den internationalen Durchbruch schaffte, legt er mit "Sicario" noch einmal eine gewaltige Schippe drauf. Theoretisch ist "Sicario" – übrigens das mexikanische Wort für einen Auftragsmörder – ein actionreicher Drogen-Thriller; ehrlicher wäre die Bezeichung als Kriegsfilm. Denn genau so hat Villeneuve die Geschichte inszeniert: als brutalen, erbarmungslosen Kriegsfilm, in dem Ex-Elitesoldaten in den Kampf gegen die ebenfalls hochgerüstete Drogenmafia ziehen, was dem Publikum passenderweise phasenweise durch Nachtsicht- oder Infrarotfilter präsentiert wird, welche die ohnehin hohe Immersion dieses packenden Meisterwerks des Spannungskinos noch weiter intensivieren.

Wenn man die Realität bedenkt, ist Villeneuves Vorgehensweise nur folgerichtig. Immerhin ist die Region, in der sich die Handlung von "Sicario" abspielt, (nicht nur) statistisch gesehen eine der gefährlichsten weltweit. Uns in Europa erreichen ja nur die schlimmsten Horrormeldungen über Massaker oder die Funde von Massengräbern in Ciudad Juárez, Tijuana oder Chihuahua, doch vor Ort muß es sich in der Tat um eine Art Kriegsgebiet handeln, in dem die Staatsmacht sehr begrenzt ist. Und so präsentiert uns "Sicario" das auch, speziell bei einem Abstecher nach Ciudad Juárez, wo Anarchie und Korruption herrschen und Kate auf offener Straße mit einem grausigen Anblick nach dem anderen konfrontiert wird. Das ist wohl die ideale Stelle innerhalb dieser Rezension, um nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß "Sicario" nichts für zarte Gemüter ist! Zwar gibt es keine Splatterorgien, aber das Gezeigte ist schon ziemlich explizit und unglaublich intensiv dargebracht – allerdings eben auch betont abschreckend in Szene gesetzt, womit die FSK ihre Altersfreigabe bereits ab 16 Jahren begründet.

Villeneuves Anleihen beim revolutionären "New Hollywood" der 1970er Jahre sind unübersehbar: der schmutzig-realistische Look, die fast ausnahmslos verkommenen, zwiespältigen Figuren, die bedrückende Atmosphäre. Ja, "Sicario" paßt wunderbar in eine Reihe mit Werken wie "French Connection", "Chinatown" oder "Taxi Driver" – und die Adjektive, mit denen sich dieser Film am besten beschreiben läßt, enden irgendwie alle auf "los": schonungslos, kompromißlos und vor allem gnadenlos. Mindestens ebenso viel Anteil wie Regisseur Villeneuve hat daran Taylor Sheridan, dessen Drehbuch-Debüt wahrlich bemerkenswert ist. Eigentlich kennt man Sheridan nämlich als Schauspieler, etwa als Sheriff Hale in den frühen Staffeln von "Sons of Anarchy" – einer Serie, von deren Schöpfer Kurt Sutter sich Sheridan offensichtlich einiges abgeschaut hat, denn die tonalen Parallelen zwischen "Sicario" und "Sons of Anarchy" sind deutlich. Inhaltlich geht Sheridan jedoch einen sehr eigenständigen Weg: Er hat ein Alptraum-Szenario geschaffen, das gerade wegen seiner Nähe zur Realität sowieso schon richtig an die Nieren geht; noch verstärkt wird dieser Eindruck durch die nahezu pausenlose Spannung, die durch den wie eine unheilverheißende Prophezeiung düster wummernden Score von OSCAR-Nominee Jóhann Jóhannsson ("Die Entdeckung der Unendlichkeit") auf die Spitze getrieben wird  sich aber gar nicht mal so oft entlädt, wie man vermuten könnte (was ich als weiteren Pluspunkt empfinde).

Das Erstaunlichste daran, wie tief "Sicario" einen in seine Geschichte hineinsaugt, ist die Tatsache, daß die Handlung eigentlich ziemlich rudimentär bleibt. Es geht um die Jagd mit allen Mitteln auf einen mysteriösen Drogenbaron, klar. Aber viel mehr ist da nicht. Dadurch, daß Kate – und damit das Publikum, als dessen Identifikationsfigur die FBI-Agentin fungiert – lange Zeit über die genauen Absichten von Graver und Alejandro im Unklaren bleibt, ist die Story eigentlich nur Augenwischerei, wie so vieles in diesem Film. Das wird von manchen Zuschauern kritisiert ebenso wie die vergleichsweise passive Rolle von Kate , ist für mich aber ein entscheidendes Element dessen, was "Sicario" so brillant macht. Leider kann ich diesbezüglich nicht ins Detail gehen, ohne zu viel zu verraten, aber es ist sehr beeindruckend, wie raffiniert – und zugleich doch so simpel – das Drehbuch nicht nur die Zuschauer, sondern auch die vermeintliche Hauptfigur Kate Macer (deren Bedeutung für die Handlung aber kurz vor Schluß direkt adressiert wird, auch wenn das scheinbar einige Zuschauer gar nicht richtig mitbekommen, wenn man so die Internetforen durchforstet) an der Nase herumführt. Und wenn wir schon bei möglichen Kritikpunkten sind: Es gibt Stimmen, die die "Auflösung" von "Sicario" als viel zu unglaubwürdig bemängeln – wer so empfindet (was durchaus nachvollziehbar ist), dem kann ich nur empfehlen, sich einmal intensiver mit der amerikanischen Außenpolitik der 1980er Jahre auseinanderzusetzen. Erneut: Mehr kann ich dazu leider nicht schreiben, da die Spoilergefahr zu hoch wäre. Das, was "Sicario" schildert, ist auf jeden Fall alles andere als unrealistisch – vielleicht entspricht es nicht der aktuellen Realität, es ist aber ohne weiteres vorstellbar. Und die Fragen moralischer und politischer Natur, die hier gestellt und ganz bewußt (und dankenswerterweise, denn alles andere wäre eine unzulässige Simplifizierung der Realität) nicht final beantwortet werden, sind heutzutage wahrscheinlich relevanter denn je zuvor.

Schauspielerisch konzentriert sich "Sicario" auf das Trio Emily Blunt, Josh Brolin und Benicio del Toro, vielleicht noch zuzüglich Daniel Kaluuya ("Johnny English – Jetzt erst recht!") als Kates FBI-Partner und Vertrauter Reggie Wayne. Auch die Nebenfiguren sind mit Victor Garber ("Argo") als Kates Vorgesetzter, Jeffrey Donovan ("Extinction") als einer von Gravers Männer sowie Jon Bernthal ("Herz aus Stahl") oder Raoul Trujillo ("Riddick") namhaft besetzt, doch bleiben sie letztlich Beiwerk. Die zentralen Figuren dagegen sind, soweit das angesichts der geheimnisumwobenen Stellung von Graver und Alejandro möglich ist, gut und nachvollziehbar ausgearbeitet und hervorragend gespielt. Vor allem die Beziehung zwischen Kate und Reggie ist erfrischend, denn sie ist frei von jedweden romantischen Gefühlen, stattdessen vergleicht Kate ihren fürsorglichen Partner sogar (nicht zu Unrecht) mit ihrer Mutter das ist eine sehr erfrischende Variation der sonst in Filmen dieser Art üblichen Konstellation. Emily Blunt beweist dabei einmal mehr ihre Klasse und daß sie absolut in der Lage ist, das Gewicht einer großen Hauptrolle – auch in einem Actionfilm – auf ihren Schultern zu tragen. Josh Brolin spielt eine Rolle, die er so ähnlich schon des Öfteren innehatte und meistert sie mit entsprechender Souveränität. Heimliches Highlight des Films ist jedoch Benicio del Toro, dieser von Hollywood so lang vernachlässigte, mit ihn oft unterfordernden Nebenrollen abgespeiste OSCAR-Gewinner (im Jahr 2001 für Soderberghs "Traffic"), der hier mit einer ungemein intensiven Darbietung und seiner beeindruckenden Ausstrahlung endlich wieder glänzen kann. Eine verdiente erneute OSCAR-Nominierung gab es dafür leider nicht, komplett leer ging "Sicario" mit drei Nennungen (Kamera, Musik, Tonschnitt) trotzdem nicht aus.

Fazit: "Sicario" ist ein unbequemes und schonungslos inszeniertes Meisterwerk des modernen Spannungskinos, ein drastischer, bedrückend aktueller Kriegsfilm im Gewand eines Drogen-Thrillers, veredelt durch ein mutiges Drehbuch und Schauspieler in Bestform.

Wertung: 10 Punkte.


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