Freitag, 1. März 2013

LES MISÉRABLES (2012)

Regie: Tom Hooper, Drehbuch: William Nicholson, Alain Boublil, Claude-Michel Schönberg und Herbert Kretzmer, Songs: Claude-Michel Schönberg und Herbert Kretzmer
Darsteller: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Amanda Seyfried, Helena Bonham Carter, Samantha Barks, Sacha Baron Cohen, Eddie Redmayne, Aaron Tveit, Isabelle Allen, Daniel Huttlestone, Colm Wilkinson, Stephen Tate
Les Misérables
(2012) on IMDb Rotten Tomatoes: 70% (6,9); weltweites Einspielergebnis: $442,8 Mio.
FSK: 12, Dauer: 158 Minuten.

Weil er einen halben Laib Brot für das kranke Kind seiner Schwester gestohlen hat, muß Jean Valjean (Hugh Jackman) im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts ins Gefängnis. Nach 19 langen Jahren im Arbeitslager wird er entlassen, doch wird er bis zu seinem Lebensende auf Bewährung sein, womit er de facto ein Ausgestoßener ist, der keine ehrliche Arbeit bekommt. Nur durch die Güte eines mildtätigen Bischofs kann Valjean einem erneuten Abrutschen in die Kriminalität entkommen und so baut er sich unter neuem Namen eine gutbürgerliche Existenz auf, in der er es Jahre später sogar bis zum Fabrikbesitzer und Bürgermeister eines Pariser Vororts bringt. Doch der unerbittliche Inspektor Javert (Russell Crowe, "Robin Hood"), der nicht glaubt, daß sich Menschen ändern können, kommt dem Flüchtigen durch einen Zufall wieder auf die Spur. Gemeinsam mit der kleinen Cosette, der Tochter der nach ihrer von Valjean nicht verhinderten Entlassung aus seiner Fabrik bettelarm verstorbenen Fantine (Anne Hathaway, "The Dark Knight Rises"), muß Valjean erneut fliehen und von vorne anfangen ...

Kritik:
Als Tom Hoopers ("The King's Speech") Kinoadaption des weltberühmten, auf dem Roman "Die Elenden" von Victor Hugo basierenden Musicals "Les Misérables", das in London seit 1985 mit großem Erfolg aufgeführt wird, Anfang Dezember 2012 seine Premiere feierte, sah es so aus, als stünde der nächste OSCAR-Gewinner bereits fest. Das Premierenpublikum reagierte enthusiastisch, sogar Tränen flossen angesichts dieser bildgewaltigen und glänzend gespielten Umsetzung der hochemotionalen Geschichte nicht zu knapp. Ein paar Tage später sah die Angelegenheit ganz anders aus, denn viele Kritiker zeigten sich nicht sonderlich angetan. Teilweise lag das an grundsätzlichen Problemen der Rezensenten mit Musicals, teilweise an der Qualität des Gesangs, teilweise an der Inszenierung, teilweise auch an der Präsentation der anspruchsvollen Handlung. Alle Kritikpunkte sind einigermaßen nachvollziehbar, ändern für mich als großen Fan der Bühnenversion von "Les Misérables" (die ich in London viermal gesehen habe und auf Video noch öfter) nichts daran, daß Hooper ein guter Film gelungen ist. Nicht so grandios wie die Vorlage und auch etwas schwächer als erhofft, aber definitiv gut.

Da "richtige" Musicals, in denen also nur oder (wie hier) fast nur gesungen wird, im 21. Jahrhundert nur noch selten die Kinos erobern, ist diese Form des Geschichtenerzählens für genrefremde Zuschauer logischerweise zunächst einmal recht gewöhnungsbedürftig. Wenn die Figuren nicht über ihre Gefühle reden, sondern singen, wenn die – in diesem Fall sogar noch ungewöhnlich komplexe – Handlung komplett durch Lieder vorangetrieben wird, dann entspricht das eben überhaupt nicht dem, was der durchschnittliche Kinozuschauer dieser Zeit gewöhnt ist. Zudem ist es naturgemäß schwieriger, eine solch abwechslungsreiche und vielschichtige Handlung dem Zuschauer in Liedform näherzubringen als mit geschliffenen Dialogen. Denn, keine Frage, "Les Misérables" fordert sein Publikum. Und das nicht nur mit der obligatorischen Liebesgeschichte (sowohl in der erfüllten als auch der unerfüllten Variante), sondern auch mit Themen wie Prostitution, sozialer Ungerechtigkeit und, im letzten Filmdrittel, sogar Revolution. Das kann mitunter durchaus verwirrend wirken, im Film jedoch etwas weniger als auf der Bühne, da man im Kino einfach näher dran ist und der Regisseur mehr Möglichkeiten hat, das Geschehen auch abseits der reinen Liedtexte zu verdeutlichen. Richtig ist allerdings, daß Hoopers Werk durch die selbst bei einer Länge von knapp 160 Minuten noch unvermeidlichen Kürzungen weniger rund wirkt als die Vorlage. Vielmehr wird ungewollt die durch die diversen Zeitsprünge sowieso schon gegebene Episodenhaftigkeit des Stoffes noch betont.

Doch das wichtigste an einem Musical ist natürlich die Musik, und die ist und bleibt grandios mit ihren manchmal mitreißenden, oft schwermütigen und immer eingängigen Melodien (und Texten). Die Erschaffer der Bühnenversion, die erfreulicherweise stark in diese Kinoadaption involviert waren, haben mit "Suddenly" sogar einen neuen Song geschrieben, der aber leider recht beliebig wirkt und damit nicht an die Qualität des bewährten Songmaterials anknüpfen kann. Zumindest nicht beim ersten Hören. Der Rest ist und bleibt aber phantastisch, womit wir auch schon bei der Qualität der Gesangseinlagen wären. Diese stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses, da Regisseur Hooper das Wagnis einging, die Gesangseinlagen nicht, wie sonst üblich, im Tonstudio zu synchronisieren, sondern sie allesamt "live" bei den Dreharbeiten aufzunehmen. Die Darsteller konnten also nicht im warmen Studio sitzen und entspannt ihre jeweiligen Parts einsingen, bis sie genau passen, sondern sie mußten zugleich schauspielern und singen – da sitzt dann eben zwangsläufig nicht jeder Ton, dafür hört man je nach Situation auch mal ein angestrengtes Keuchen. Dieses Vorgehen erhöht zweifelsohne die Authentizität von "Les Misérables" – und glücklicherweise sind die meisten Mitwirkenden so gut, daß der gesangliche Qualitätsverlust in einem sehr überschaubaren Rahmen bleibt. Ich war speziell nach den Trailern skeptisch, doch nun sage ich: Das Experiment ist geglückt.

Dabei mußte sich vor allem Russell Crowe ob seiner Sangeskünste viel Kritik und sogar Spott anhören, weshalb ich umso positiver überrascht war, als ich den Film dann endlich selbst sehen konnte (in Deutschland startete er später als in den meisten anderen Ländern weltweit). Natürlich reichen Crowes stimmliche Fähigkeiten trotz jahrelanger Erfahrung als Leadsänger seiner eigenen Rockband nicht an jene von ausgebildeten Musical-Darstellern heran, von denen es in diesem Film einige gibt – vor allem in "The Confrontation", einem "Gesangsduell" mit Hugh Jackman, werden die Unterschiede ziemlich deutlich. Dennoch bringt er seine Songs gut über die Bühne und, was noch wichtiger ist, er spielt den Inspektor Javert ausgezeichnet. Denn das ist ja das Entscheidende: Auf der Bühne sind die Gesangsqualitäten viel wichtiger als die schauspielerischen, doch im Kino muß beides stimmen. Da muß man einfach Kompromisse eingehen. Selbstverständlich wäre es möglich gewesen, einen besseren Sänger als Crowe für die Rolle zu finden – nur wäre der mit großer Wahrscheinlichkeit ein schlechterer Schauspieler gewesen. Und gerade für diesen großen Antagonisten der Geschichte, dessen Motivation nicht ganz so leicht greifbar ist, ist es entscheidend, daß man dem Schauspieler die Rolle auch wirklich abnimmt. Russell Crowe gelingt das und da bin ich dann gerne bereit, auf absolute Gesangsperfektion zu verzichten.

Hugh Jackman allerdings bietet tatsächlich beides: Er verkörpert Jean Valjean ungemein intensiv und charismatisch UND er singt mit seiner wohltönenden Stimme nahezu fehlerfrei – seine OSCAR-Nominierung hat er sich somit redlich verdient, ohne Daniel Day-Lewis als "Lincoln" hätte er die Trophäe wahrscheinlich sogar gewonnen, so wie es Anne Hathaway für ihre beeindruckende Nebenrolle als Fantine gelang. Auch die Nebendarsteller und Statisten, von denen etliche in der Vergangenheit bereits bei der Bühnenversion mitgewirkt haben, überzeugen fast ausnahmslos, teilweise begeistern sie sogar. Helena Bonham Carter ("Big Fish") und Sacha Baron Cohen  ("Hugo Cabret") füllen ihre (dankbaren) Rollen als diebisches Wirtsehepaar Thénardier mit Bravour aus, Eddie Redmayne ("My Week with Marilyn") überzeugt als verliebter Student Marius und Colm Wilkinson, der Valjean-Darsteller der "Les Misérables"-Premiere im Jahr 1985, sorgt in seiner kleinen Rolle als Bischof für Gänsehaut. Lediglich Amanda Seyfried ("Mamma Mia!") bleibt als erwachsene Cosette ein wenig blaß – was aber auch daran liegt, daß ihre brave Rolle schlicht und ergreifend langweiliger ist als die von Eponine, ihrer unglücklichen Konkurrentin im Werben um Marius. Die 22-jährige Samantha Barks hat diese Rolle bereits auf der Londoner Bühne verkörpert und es ist nicht schwer zu erraten, warum auch Hooper sie besetzt hat: Sie ist einfach umwerfend, und wenn man bei ihrem herzzerreißenden Vortrag der zentralen Ballade "On my own" nicht zu Tränen gerührt ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Eine ähnlich perfekte Besetzung ist die kleine Isabelle Allen, die Cosette als Kind spielt und optisch wie klanglich nicht besser hätte ausgewählt werden können (wie man anhand des US-Filmplakats, dessen Motiv auch den Soundtrack und die neue deutsche Taschenbuchausgabe schmückt, gut nachvollziehen kann). Sowohl von Barks als auch von Allen würde man als Zuschauer gerne viel mehr sehen, auch in Zukunft in anderen Rollen.

Damit wären wir bei Tom Hoopers Inszenierung angelangt: Kritikern sind vor allem die extensiv eingesetzten Großaufnahmen der Sänger übel aufgestoßen und in der Tat hat es Hooper da ein wenig übertrieben – allerdings gewöhnt man sich recht schnell an dieses Stilmittel. Ansonsten hält sich der Regisseur weitgehend eng an die Vorlage, was einerseits lobenswert ist – schließlich ist diese Vorlage nahezu perfekt –, andererseits aber manchmal auch schade, da es ein paar Szenen gibt (zum Beispiel die Auftaktsequenz), in denen man sieht, was man mit den viel größeren und vielfältigeren Mitteln einer Filmproduktion hätte erreichen können. Wo Hooper sich doch einmal zu deutlicheren Änderungen durchringt, geht das manchmal gut, oft aber eher schief. Ein positives Beispiel ist die Einführungsszene der Thénardiers zum Song "Master of the House" – hier nutzt Hooper zur Abwechslung die Möglichkeit, sich durch eine gelungene Kamerafahrt und die Einbindung vieler schöner Details über die Begrenzungen des Theaters hinwegzusetzen. Warum nicht öfter so? Andererseits vermasselt er dafür im letzten Drittel während des gewalttätigen Studenten-Aufstandes ausgerechnet die schockierendste Szene der gesamten Geschichte – die auf der Bühne regelmäßig zu leisen Schreckensrufen der neuen Zuschauer führt – und beraubt sie mit ärgerlichen, in diesem Fall vollkommen überflüssigen und sogar unsinnigen Änderungen fast komplett ihrer Wirkung. Bei der denkwürdigen Abschiedsszene einer wichtigen Figur wiederum macht Hooper eigentlich nichts falsch, es zeigt sich aber eindrücklich, daß die Bühnen-Version trotz oder sogar gerade wegen der inszenatorischen Beschränkungen des Theaters irgendwie poetischer ausfällt.

Was die angesprochenen Kürzungen betrifft, so hat Hooper nachvollziehbarerweise versucht, fast alle Songs irgendwie zu integrieren. Die einzigen Lieder, die komplett fehlen, sind "I saw him once" und "Dog eat dog" (und letzteres auch nur deshalb, weil Sacha Baron Cohen krank wurde und der eng gesteckte Zeitplan es nicht zuließ, auf seine Genesung zu warten). Andere werden dafür in teils deutlich gekürzten Versionen präsentiert, aber insgesamt kann man in musikalischer Hinsicht mit Hoopers Entscheidungen zufrieden sein. Inhaltlich ist es allerdings schade, daß die Kürzungen (zumindest gefühlt) vor allem den dramatischen letzten Teil der Geschichte mit den gewaltsamen Studentenprotesten betreffen, der deshalb ziemlich gehetzt wirkt und dessen Protagonisten weniger Zeit und Sorgfalt gewidmet wird, als es wünschenswert wäre. So bleibt gerade dieser lange letzte Akt, der eigentlich in jeder Hinsicht den Höhepunkt des Musicals darstellt, etwas unter seinen Möglichkeiten.

In Deutschland wird "Les Misérables" regulär in einer Mischung aus Originalsprache mit Untertiteln (bei den Songs) und deutscher Synchronisation gezeigt. Man kann sich durchaus fragen, wie sinnvoll es ist, in einem Musical, in dem zu geschätzt 95% gesungen wird, die restlichen 5% überhaupt noch ins Deutsche zu übertragen, aber andererseits muß man wohl schon froh sein, daß nicht – wie früher lange Zeit üblich – auch die Lieder synchronisiert wurden. Wer übrigens durch dieses Musical Interesse an der zugrundeliegenden Geschichte von Victor Hugo finden sollte (aber keine Lust hat, das Buch zu lesen), dem kann ich unter den Dutzenden von gesangsfreien Verfilmungen vor allem zwei aus Frankreich empfehlen: Robert Hosseins 200-minütige Version aus dem Jahr 1982 mit dem deutschen Titel "Die Legion der Verdammten", die sich eng an die Vorlage hält und Lino Ventura in der Hauptrolle zu bieten hat; und Claude Lelouchs Film von 1995 mit Jean-Paul Belmondo als Valjean, wobei die Handlung in die Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg verlegt wurde – was überraschenderweise wunderbar funktioniert.

Fazit: "Les Misérables" ist eine etwas zu konventionell geratene Adaption eines der besten Musicals aller Zeiten. An die Bühnenvorlage kommt diese Filmversion nicht heran, doch die grandiose Musik, die spannende Story und die erstklassige Besetzung machen sie dennoch zu einem opulenten Kinogenuß.

Wertung: 8 Punkte.

Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger amazon.de-Bestellungen über einen der Links freuen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen