Mittwoch, 15. Juni 2022

MOTHERLESS BROOKLYN (2019)

Regie und Drehbuch: Edward Norton, Musik: Daniel Pemberton
Darsteller: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Willem Dafoe, Bobby Cannavale, Bruce Willis, Michael Kenneth Williams, Dallas Roberts, Ethan Suplee, Cherry Jones, Robert Ray Wisdom, Josh Pais, Fisher Stevens, Radu Spinghel, Leslie Mann
Motherless Brooklyn (2019) on IMDb Rotten Tomatoes: 64% (6,3); weltweites Einspielergebnis: $18,6 Mio.
FSK: 12, Dauer: 145 Minuten.
New York, 1950er Jahre: Als der erfahrene Privatdetektiv Frank Minna (Bruce Willis, "Looper") nach einem Treffen, über dessen Hintergründe er sich seinen vier Mitarbeitern gegenüber sehr bedeckt hielt, erschossen wird, ist gerade sein Schützling Lionel (Edward Norton, "Birdman") schockiert; zudem macht er sich Vorwürfe, daß er Franks Tod nicht verhindert hat. Während seine Kollegen in der Detektei, Gilbert Coney (Ethan Suplee, "Unstoppable"), Tony Vermonte (Bobby Cannavale, "Blue Jasmine") und Danny Fantl (Dallas Roberts, TV-Serie "The Walking Dead") sich recht schnell wieder ihrer normalen Arbeit widmen, konzentriert sich Lionel – der unter dem Tourette-Syndrom leidet, welches ihn unkontrolliert Laute und Satzfetzen äußern läßt, speziell, wenn er angespannt ist – darauf, die Hintergründe von Franks Tod aufzudecken. Diese erweisen sich als reichlich komplex, haben aber offensichtlich mit dem Politiker Moses Randolph (Alec Baldwin, "To Rome with Love") zu tun. Der hält sich zumeist im Hintergrund, hat als Leiter mehrerer Stadtdezernate aber großen Einfluß vor allem auf die Bautätigkeiten in New York. Irgendwie ist außerdem die dunkelhäutige Aktivistin Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw, "Jupiter Ascending") in die Angelegenheit verwickelt, die engagiert gegen die Vertreibung der armen, oft schwarzen Bevölkerung aus ihren Vierteln wegen der von Randolph vorangetriebenen Modernisierung ankämpft. Auch der mysteriöse Architekt Paul (Willem Dafoe, "The Northman") verfügt über erstaunliches Insiderwissen, das er mit Lionel, der sich als Enthüllungsjournalist ausgibt, teilt …

Kritik:
Edward Norton ist bekanntlich in erster Linie als Schauspieler tätig, in dieser Funktion hat er es auch schon zu drei OSCAR-Nominierungen gebracht (für sein Kinodebüt "Zwielicht", "American History X" und "Birdman"). Wie so viele Schauspieler versucht auch Norton sich gelegentlich als Regisseur und Drehbuch-Autor. Geschmack an dem Job hinter der Kamera fand Norton möglicherweise bereits beim Dreh von "American History X", bei dem er als Hauptdarsteller so stark inhaltlich eingriff, daß der eigentliche Regisseur Tony Kaye sogar seinen Namen aus der finalen, nicht mehr von ihm verantworteten Schnittfassung entfernen lassen wollte (was aber aus formalen Gründen nicht ging). Es war vermutlich nicht das einzige Mal, daß der bekannt selbstbewußte und intelligente Norton einen seiner Regisseure an den Rand der Verzweiflung brachte (daß er nur einmal als Hulk auftrat, hat seine Gründe …), aber das herausragende Resultat bestätigte ihn durchaus. Dementsprechend führte er zwei Jahre später erstmals ganz offiziell Regie, doch obwohl die Komödie "Glauben ist alles!", in der er an der Seite von Ben Stiller und Jenna Elfman die dritte Hauptrolle spielte, ungemein witzig ausfiel und auch gute Kritiken einheimste, enttäuschte sie leider an den Kinokassen. Ob das nun der Grund dafür ist, daß es 19 Jahre bis zu seiner zweiten Regiearbeit dauerte, ist unbekannt, aber letztlich auch egal. Fakt ist, daß Norton bei dem Film noir "Motherless Brooklyn" nicht nur Regie führte und erneut die Hauptrolle übernahm, sondern auch noch die Romanvorlage von Jonathan Lethem in ein Drehbuch adaptierte. Der fertige Film floppte bedauerlicherweise erneut, kann inhaltlich aber trotz einiger Schwächen durchaus überzeugen.

Edward Norton ist erkennbar ein Fan des Film noir, der sich in diesem speziellen (Sub-)Genre sehr gut auskennt – wobei das offensichtlichste Vorbild von "Motherless Brooklyn" ein Werk außerhalb der Film noir-Hochzeit ist, nämlich Polanskis "Chinatown" aus dem Jahr 1974, mit dem die erzählte Geschichte eine ziemlich große Ähnlichkeit hat. Bedeutendster Unterschied zwischen beiden Werken ist der Protagonist: Während in "Chinatown" der von Jack Nicholson unnachahmlich verkörperte Jake Gittes ein klassischer hartgesottener und einzelgängerischer Privatdetektiv ist, ist Edward Nortons Lionel Essrog ein ganz anderer Typ. Und das hängt nur zum Teil mit seinem Tourette-Syndrom zusammen, das letztlich eine geringere Rolle spielt, als man es vermuten würde. Zwar brockt es Lionel erwartungsgemäß ein paar unangenehme bis peinliche Situationen ein, jedoch ist er bereits so erfahren im Umgang mit seiner Krankheit, daß er sie die meiste Zeit über gut kaschieren kann. Dennoch hat das Tourette-Syndrom und der Umgang damit sicherlich Lionels charakterliche Entwicklung geprägt: Er ist ein sensibler, vorsichtiger Typ, der sich nicht leicht öffnet, jedoch in der Detektei seines väterlichen Mentors Frank Minna eine Ersatz-Familie gefunden hat, die ihn sowohl menschlich als auch beruflich zu schätzen weiß. Das liegt nicht zuletzt daran, daß er schlicht und ergreifend ein guter Detektiv mit einem phänomenalen Gedächtnis ist, den Frank in entscheidenden Momenten quasi als menschliches Aufnahmegerät benutzt, weil er einfach nichts vergißt. Kurzum: Lionel Essrog ist in jeder Hinsicht ein spannender Protagonist, dessen akribischer Arbeit man gerne folgt.

Nicht verschwiegen werden soll allerdings, daß besagte akribische Arbeit mitunter doch etwas zu ausführlich und tempoarm geschildert wird. In seiner fast zweieinhalbstündigen Laufzeit läßt sich "Motherless Brooklyn" viel Zeit, um Lionels komplizierten Ermittlungen zu folgen – zu viel Zeit. Denn während sich der Film ganz auf Lionel konzentriert, kommen sowohl seine vielen Gesprächspartner als auch seine drei Kollegen in der Detektei zu kurz. Speziell die prägnant besetzten Mit-Detektive hätten gerne mehr in die Handlung involviert werden dürfen – immerhin lernen wir das Quartett als echtes Team kennen, wovon im Verlauf dann leider nicht mehr viel zu sehen ist. Der Fall selbst ist kompliziert und verästelt, aber gut konstruiert und schlüssig aufgebaut (wenn auch für "Chinatown"-Kenner recht vorhersehbar). Abgesehen vom langsamen Erzähltempo gibt es in dieser Hinsicht wenig zu bemängeln. Atmosphärisch macht "Motherless Brooklyn" mit eleganten Bildern des britischen Kameramannes Dick Pope ("Mr. Turner") sowie einem tollen, für den Golden Globe nominierten Jazz-Soundtrack von Daniel Pemberton ("King Arthur: Legend of the Sword") – dem der berühmte Jazz-Trompeter Wynton Marsalis zur Seite stand – ebenfalls sehr viel richtig. Und obwohl in der Besetzung bis auf Norton und den kurzen Auftritt von Bruce Willis die ganz großen Stars fehlen, hat Norton doch ein starkes Ensemble sehr talentierter Mimen zusammengestellt, die selbst kleinste Rollen überzeugend verkörpern – als Beispiel sei der zwei Jahre nach dem Kinostart von "Motherless Brooklyn" früh verstorbene Michael Kenneth Williams (TV-Serie "The Wire") genannt, der für seinen kurzen, markanten Auftritt als Jazz-Trompeter nicht einmal einen Namen spendiert bekommen hat, aber trotzdem im Gedächtnis bleibt. Mit einer etwas temporeicheren, aufregenderen Inszenierung und einem geringeren Fokus auf den Protagonisten hätte "Motherless Brooklyn" ein echter Genreklassiker werden können – so ist er "nur" ein guter Film noir, der sein Potential nicht ganz ausschöpft.

Fazit: Edward Nortons "Motherless Brooklyn" ist ein eleganter Film noir mit spannendem, aber überpräsenten Protagonisten, der mit einem höheren Erzähltempo noch besser funktionieren würde.

Wertung: 7,5 Punkte.
 
 
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