Dienstag, 19. November 2019

AN INSPECTOR CALLS (2015, TV-Film)

Regie: Aisling Walsh, Drehbuch: Helen Edmundson, Musik: Dominik Scherrer
Darsteller: David Thewlis, Ken Stott, Miranda Richardson, Chloe Pirrie, Kyle Soller, Finn Cole, Sophie Rundle, Lucy Chappell
 An Inspector Calls
(2015) on IMDb Rotten Tomatoes: -, FSK: 12, Dauer: 86 Minuten.
Großbritannien im Jahr 1912: Auf dem Anwesen der reichen Unternehmerfamilie Birling wird die Verlobung von Sheila Birling (Chloe Pirrie, TV-Serie "Troja: Untergang einer Stadt") mit Gerald Croft (Kyle Soller, TV-Serie "Poldark") gefeiert – da die Crofts zu den Geschäftskonkurrenten der Birlings zählen, birgt die bevorstehende Hochzeit nicht allein romantische Vorteile, worüber sich speziell Sheilas Vater Arthur (Ken Stott, "Der Hobbit") freut. Das gesellige Zusammensein wird allerdings schon bald durch einen unangekündigten Besucher nachhaltig gestört: Inspector Goole (David Thewlis, "Die Entdeckung der Unendlichkeit") unterrichtet die Anwesenden von dem Selbstmord einer Frau namens Eva Smith (Sophie Rundle, TV-Serie "Peaky Blinders"). Die hatte einst für Arthur Birling gearbeitet, wurde von diesem aber gefeuert, nachdem sie einen Frauenstreik für bessere Bezahlung angeführt hatte. In der Folge mußte Eva viel erdulden, bis sie sich schließlich an diesem Nachmittag der Verzweiflung hingab – und wie sich herausstellt, hat nicht nur Arthur seinen Anteil an Evas Misere, sondern vielmehr jeder einzelne Anwesende bei dieser Verlobungsfeier …

Kritik:
Obwohl J.B. Priestleys kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges verfaßtes, offensichtlich stark von diesem beeinflußtes sozialkritisches Theaterstück "An Inspector Calls" in Großbritannien sehr bekannt ist – teilweise scheint es sogar zur Schullektüre zu zählen – und auch schon in Deutschland unter dem Titel "Ein Inspektor kommt" aufgeführt wurde, hatte ich bisher noch nie davon gehört. Auch die britische Kinoadaption von 1954 (von dem späteren mehrfachen James Bond-Regisseur Guy Hamilton, der mit "Goldfinger" auch für einen der besten Filme der Reihe verantwortlich zeichnet) kenne ich nicht, ebenso wenig diverse, über die Dekaden verteilte BBC-TV-Verfilmungen. Dementsprechend war es weder der Titel noch die Prämisse dieser jüngsten Version, die mich anzog; vielmehr war es die Besetzung mit dem großartigen, jedoch im Kino leider meist auf Nebenrollen abonnierten David Thewlis in der Titelrolle sowie dem nicht weniger großartigen Ken Stott in einer weiteren Hauptrolle. Und ich wurde keineswegs enttäuscht, denn "An Inspector Calls" leidet zwar ein klein wenig unter seinem arg konstruiert wirkenden Plot und einem gewissen Mangel an Subtilität in der sozialkritischen Botschaft, ist aber ein Fest für Anhänger theatergeschulter britischer Schauspielkunst – und von der war ich persönlich schon immer ein glühender Verehrer.
Um die zwangsläufige Statik der auf einen Raum beschränkten Bühnenvorlage aufzubrechen, fügen Regisseurin Aisling Walsh ("Maudie") und Drehbuch-Autorin Helen Edmundson ("Maria Magdalena") einige Rückblenden ein. All das, was im Stück Inspector Goole den Birlings und Gerald nur erzählt, bekommt das Publikum hier direkt zu Gesicht – somit lernen wir auch die todgeweihte Eva kennen, die im Theaterstück nicht in personam vorkommt. Dieses Vorgehen ist logisch – ohne Anpassungen an das Medium hätte man ja gleich eine Theatervorführung abfilmen können –, birgt aber Stärken und Schwächen in sich. Auf der einen Seite ist die etwas größere Abwechslung durch die Rückblenden und die damit verbundenen Schauplatzwechsel keine schlechte Sache und dadurch, daß wir Eva persönlich kennenlernen und die Fixpunkte dessen, was ihr innerhalb von etwa zwei Jahren widerfährt, mitansehen, wächst natürlich eine emotionale Bindung, die im Theaterstück schwerlich aufgebaut werden kann. Anders formuliert: Während man im Theater eher abstrakt mit Eva mitfühlt und -leidet, geschieht das im TV-Film dank Sophie Rundles verletztlicher und gutherziger Interpretation der Rolle sehr viel direkter und konkreter. Auf der anderen Seite kann man durchaus bedauern, daß besagte Rückblenden ein Stück weit die bedrückende Intimität der beengten Szenerie im Hause der Birlings aufbricht, zudem führt Evas direkte Miteinbeziehung zu einem gewissen dramaturgischen Nebeneffekt, auf den ich wegen der Spoilergefahr nicht näher eingehen will. Es sei aber festgehalten, daß ein relativ spät ins Gewicht fallender Aspekt der Geschichte im Theaterstück ohne Eva deutlich besser funktioniert. Ob die Stärken dieser Drehbuch-Anpassungen die Schwächen überwiegen oder nicht, ist vermutlich Geschmackssache und für mich schwer zu beurteilen, da ich das Theaterstück, wie erwähnt, nie gesehen habe.
Unabhängig von der Frage, ob Theaterstück oder TV-Film besser ist, bleibt jedoch festzuhalten, daß "An Inspector Calls" für sich genommen sehr gut funktioniert. Ja, die Story, in der jeder der Anwesenden aus purem Zufall (oder hatte das Schicksal seine Hand im Spiel?) seine Rolle bei Evas Niedergang spielte, ist sehr konstruiert und auf den ersten Blick nicht hundertprozentig glaubwürdig. Andererseits kommt es in der Realität aber bekanntlich sehr wohl zu selbst den absurdesten Zufällen und daß sich eine fiktive Geschichte auf solche Zufälle konzentriert, ist ja nicht per se verwerflich. Maßgeblich ist letztlich die Art der Umsetzung, und die ist Walsh und Edmundson insgesamt sehr überzeugend gelungen. Die Story ist gut und logisch aufgebaut und wirkt deshalb, während man sie verfolgt, erheblich glaubwürdiger als beim reinen Lesen der Prämisse. Ein entscheidender Punkt ist zudem die Besetzung: Ein dermaßen dialoglastiger und emotional aufgeheizter Film wie "An Inspector Calls" kann nur dann richtig funktionieren, wenn die Schauspieler erstens gut ausgewählt sind und zweitens ihr ganzes Können zeigen.
Dies ist zweifellos der Fall. David Thewlis ist als strenger, die Verfehlungen der Anwesenden kühl analytisch und unbarmherzig aufdeckender Inspektor eine Wucht, wobei er gleichzeitig ganz bewußt ein wenig mysteriös und unberechenbar bleibt. Glänzend hält sich neben ihm Ken Stott mit seinem wunderbaren schottischen Akzent (nur in der Originalfassung, versteht sich) als altmodischer, wie seine Frau Sybil (Miranda Richardson, "Sleepy Hollow") auf einigermaßen unangenehme Weise ganz der britischen Klassengesellschaft verpflichteter Patriarch, während die beiden erwachsenen Birling-Kinder Sheila und Eric (Finn Cole, TV-Serie "Animal Kingdom") trotz ihrer Fehler zukunftsgewandter und auch einsichtiger wirken – irgendwo dazwischen steht der Bräutigam in spe Gerald. Jede Person aus diesem Sextett wurde ausgezeichnet gecastet und funktioniert alleine ebenso gut wie im Zusammenspiel mit den übrigen Figuren. Das führt im Verbund mit den durchdachten Dialogen dazu, daß die betont melancholisch erzählte und in gedeckten Farben gefilmte Geschichte einen ungeheuren Sog entwickelt und man unbedingt wissen will, wie es weitergeht und endet. Sehr viel mehr kann man von einem britischen Krimi eigentlich nicht erwarten, oder? Daß die (lobenswert menschenfreundliche und eben erkennbar von den Schrecken zweier Weltkriege geprägte) Botschaft, die Inspector Goole am Ende in einem im Grunde repetitiven, aber eindringlich vorgetragenen Monolog vermittelt, eher plakativ daherkommt, sei daher verziehen.

Fazit: "An Inspector Calls" ist ein melancholisches, bewegendes britisches TV-Kriminaldrama, das etwas konstruiert daherkommt, aber mit seiner großartigen, von David Thewlis angeführten Besetzung bis zum Schluß fesselt.

Wertung: Gut 8 Punkte.


"An Inspector Calls" erschien am 15. November 2019 von Pandastorm Pictures auf DVD und umfaßt als Bonusmaterial zwei informative Featurettes mit einer kombinierten Länge von knapp 25 Minuten. Darin werden vor allem die Änderungen gegenüber der Bühnenvorlage sowie die Motivation für diese Änderungen beleuchtet, wobei auch der Sohn des Original-Autors zu Wort kommt. Ein Rezensionsexemplar wurde mir netterweise von Glücksstern-PR zur Verfügung gestellt.



Screenshots: © Pandastorm Pictures, BBC

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen