Originaltitel: Youth
Regie und Drehbuch: Paolo Sorrentino, Musik: David Lang
Darsteller: Sir Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz,
Paul Dano, Jane Fonda, Madalina Ghenea, Luna Mijovic,
Alex Macqueen, Roly Serrano, Sonia Gessner, Wolfgang Michael, Sumi Jo, Emilia Jones, Paloma Faith,
The Retrosettes
FSK: 6, Dauer: 124 Minuten.
Seit ihrer Kindheit sind Fred Ballinger (Michael Caine,
"Harry Brown") und Mick Boyle (Harvey Keitel, "Moonrise Kingdom") Freunde. Nun sind sie alte Männer, allerdings sehr erfolgreiche
alte Männer, denn beiden haben lange Künstlerkarrieren hinter sich. Fred ist
ein Weltklasse-Dirigent, der auch als Komponist mit seinen "Simple
Songs" viele Anhänger fand; Mick ist Filmemacher, der so ähnlich wie Woody
Allen vor allem ein Händchen für starke Frauenrollen hat. Gemeinsam machen die
alten Freunde Urlaub in einem luxuriösen Wellness-Hotel in den Schweizer Alpen, zu
dessen Gästen ebenfalls der Filmstar Jimmy Tree (Paul Dano, "Ruby Sparks"), die "Miss Universum"-Gewinnerin (das rumänische Model Madalina Ghenea) und
der stark übergewichtige ehemalige Fußballstar Diege Armando Maradona (Roly Serrano)
zählen. Während Fred seit dem Verlust seiner Ehefrau im Ruhestand ist und sich
nicht mal von einem Abgesandten der britischen Königin (Alex Macqueen, "Ich sehe den Mann Deiner Träume") zu einem Comeback überreden lassen
will, arbeitet Mick mit einer Gruppe junger Autoren an dem Drehbuch zu einem letzten
großen Film, an dem auch Superstar
Brenda Morel (Jane Fonda, "Barbarella") mitwirken soll, die ihre Weltkarriere vor allem Mick zu verdanken hat …
Kritik:
Es gibt Filme; und es gibt Kunst. Natürlich gibt es keine
definitive Methode, um zu bestimmen, ab wann ein Film die Schwelle zur Kunst
überschreitet. Aber es gibt Filme, bei denen es ist es offensichtlich.
Filme, bei denen eine traditionelle Handlung oft höchstens als Randerscheinung
vorkommt; bei denen das Konkrete durch das Abstrakte ersetzt wird und das
(vermeintlich) Natürliche durch das Stilisierte; bei denen es primär um
Stimmungen und penibel ausgetüftelte Bildkompositionen und oft auch um eine
starke Einbindung von Musik geht. Tom Fords "A Single Man" ist ein
gutes Beispiel dafür. Ebenso so ziemlich alles, was ein Stanley Kubrick je
fabriziert hat. Auch die Nouvelle Vague qualifiziert sich locker
als Kunst (wenngleich nicht jeder einzelne Beitrag wirklich "gute"
Kunst ist, aber das ist natürlich in hohem Maße subjektiv). Und das, was der italienische Filmemacher Paolo Sorrentino auf die
Leinwand bringt, ist definitiv Kunst. Für die Multiplex-Kinos sind solche
Produktionen kaum geeignet, ein Millionenpublikum darf man nur in absoluten
Ausnahmefällen erhoffen. Was viele professionelle Kritiker zu beinahe euphorischen
Reaktionen veranlaßt, ruft bei vorrangig filmische Durchschnittskost gewohnten Zuschauern eher (nicht selten heftige) Ablehnung hervor, häufig unter Einbezug des Adjektivs
"prätentiös". Jawohl, "Ewige Jugend", Paolo Sorrentinos mit drei
Europäischen Filmpreisen ausgezeichnetes englischsprachiges Debüt, das
auf seinen Gewinn des Auslands-OSCARs für "La Grande Bellezza" folgt
und dessen felliniesken Stil konsequent weiterverfolgt, ist genau so ein Film.
Und ich liebe ihn!
Wie angedeutet ist auch hier die Handlung nur
Mittel zum Zweck. Zwar geschieht durchaus einiges: Mick arbeitet mit seinem Team
konsequent an seinem letzten Drehbuch – konkret an dessen Schluß, den sie
einfach nicht perfekt hinbekommen –, Fred versucht, die hartnäckigen Avancen
des königlichen Gesandten abzuwehren, seine Tochter Lena (Rachel Weisz,
"Agora") wird von ihrem Mann (Micks Sohn) für ein zehn Jahre
jüngeres Popsternchen (ein amüsanter Gastauftritt von Paloma Faith) verlassen. Doch ist das alles letztlich nichts Besonderes, es
ist schlicht und ergreifend das Leben, das den Protagonisten des Films
widerfährt – auch wenn sie zu den sprichwörtlichen "oberen
Zehntausend" zählen. Denn egal wie reich und berühmt und schön man
vielleicht ist, das Leben und das Alter verschonen einen nicht. Und so kontrastiert
Sorrentino immer wieder (vor allem in der ersten Hälfte) alt und jung, alt und
schön – übrigens mit reichlich nackter Haut, die sich aber gerechterweise
keineswegs auf die Kategorien "jung" und "schön" beschränkt
… –, was die Sehnsucht von Fred und Mick (und vermutlich vieler anderer Senioren)
nach der Vergangenheit noch unterstreicht. Alleine der Gesichtsausdruck der
beiden, als eines Abends die splitterfasernackte "Miss Universum" zu
ihnen in den Pool steigt (siehe Filmposter) – unbezahlbar! Das ist wunderbar
gespielt von Harvey Keitel und vor allem von Michael Caine, zudem sorgen die
witzigen, vor Selbstironie triefenden, pointierten Dialoge dafür, daß die an
sich nicht gerade komödiantische Thematik stets eine gewisse Leichtigkeit
behält. Da wundert sich beispielsweise Mick, als er in der Hotel-Apotheke alle
Medikamente, die er benötigt, zur Kasse schleppt, daß sein Freund Fred
überhaupt nichts kaufen will. Darauf nimmt dieser eine Packung Pflaster
und legt sie dazu. Mick: "Warum brauchst du Pflaster?" – Fred: "Ich
brauche keine, ich zeige mich nur solidarisch".
Wenn Fred und Mick nicht über ihre gesundheitlichen
Beschwerden sprechen, dann schwelgt vor allem Dirigent Fred oft in Erinnerungen
an die eigene Jugend. Und weil wir hier nicht von einem bloßen Film reden,
sondern von Kunst, drückt sich die Sehnsucht in auf den ersten Blick
unscheinbaren, sich aber nach und nach genial entfaltenden Szenen aus. Da
dirigiert Fred schon mal auf einer Alm in Gedanken die Kuhglocken und das Zwitschern der
Vögel zu einem rauschenden Konzert. Da wird ein simpler Tennisball unabhängig
voneinander gleich für mehrere Personen zum Sehnsuchtsobjekt: für Fred schlicht durch
die bittere (dem Publikum wortlose vermittelte) Erkenntnis, daß er aufgrund
seines Alters wohl nie wieder Tennis spielen wird,
für die deutlich jüngere, aber vielleicht sogar noch gebrechlichere
Fußball-Legende Diego Maradona durch die Erinnerung daran, was er einst alles mit einem Ball
anfangen konnte – und in Ansätzen immer noch kann, wie eine grandiose, anrührende Szene zwischen Tragik und Komik beweist.
"Ewige Jugend" – übrigens ein zwar klangvoller, inhaltlich aber
eher unglücklich gewählter deutscher Titel im Vergleich zum simplen, aber
treffenden Originaltitel "Jugend" – ist eben kein "Story-Film",
sondern eine bittersüße, philosophisch angehauchte Betrachtung über das Älterwerden und über die unstillbare Sehnsucht nach Jugend, deren stilistische Eleganz ihresgleichen sucht.
Die Einbindung Maradonas (dessen passenderweise
argentinischer Darsteller Roly Serrano trotz seines enormen Leibesumfangs dem
echten, deutlich schlankeren Maradona erstaunlich ähnlich sieht) ist derweil ein weiterer kleiner Geniestreich
Sorrentinos. Nicht deshalb, weil er etwas von Bedeutung zur rudimentären Handlung beitragen
würde, sondern weil er perfekt in das tragikomische, von verschiedenen
Sehnsüchten getriebene Ensemble aus Nebenfiguren hineinpaßt und fast ohne Worte
ebenso für witzige wie auch für nachdenkliche Szenen sorgt. Überhaupt ist es
schlicht sensationell, wie es Sorrentino gelingt, selbst die für die Geschichte allesamt komplett nebensächlichen Randcharaktere, die namenlos bleiben (selbst Maradonas Name wird nie genannt) und nur in
den seltensten Fällen den Mund aufmachen, meisterhaft subtil und dabei ungemein
gefühlvoll in sein Gesamtkunstwerk einzubinden. So bringt er sie dem Zuschauer
scheinbar mühelos näher als es so manche Hollywood-Produktion selbst mit ihrem
Protagonisten schafft! Da ist das ältere Paar, das täglich zusammen im
Hotelrestaurant ißt, dabei aber kein einziges Wort miteinander wechselt; die
scheue junge Masseurin (Luna Mijovic, "Esmas Geheimnis") mit der Zahnspange und dem sehnsuchtsvollen Blick; und eben
Diego Maradona. Gerade in diesen meistens wortlosen Szenen kommt auch die
wunderbare musikalische Begleitung durch David Lang ("Requiem for a
Dream") noch stärker zur Geltung als sonst, dessen OSCAR-nominiertes Meisterstück in
"Ewige Jugend" Freds berühmteste Komposition "Simple Song
#3" ist – dessen Darbietung durch die südkoreanische
Weltklasse-Sopranistin Sumi Jo den Film zu einem hochgradig bewegenden Finale
verhilft.
Gewissermaßen im Mittelfeld des Ensembles stehens Freds
schöne Tochter Lena und der junge Filmstar Jimmy. Beide sind nicht so sehr im Zentrum wie
Fred und Mick, haben aber deutlich mehr zu tun und vor allem zu sagen als Maradona
und Konsorten. Vor allem Rachel Weisz nutzt das weidlich aus, sie ist für mich
der heimliche Star des Films mit einer OSCAR-reifen Performance, die die
leidenschaftliche Emotionalität der unerwartet, aber um so heftiger gehörnten Ehefrau ebenso überzeugend
darbietet wie später in diesem Urlaubssommer die zaghaft erblühende Hoffnung,
als ihr der schüchterne Bergsteiger Luca (Robert Seethaler, TV-Serie "Ein starkes Team") sanfte Avancen macht. Paul Dano macht
seine Sache als durch die ewige Reduzierung seiner Karriere durch die Fans
auf eine einzige, von ihm eher ungeliebte Rolle genervter und deshalb
leicht arrogant wirkender, aber niemals unsympathischer Filmstar gut, doch
leidet er ein klein wenig darunter, daß sein Handlungsstrang der konventionellste und
damit vorhersehbarste des ganzen Films ist. Und dann ist da als zusätzliches
Leckerli für alle Verehrer gehobener Schauspielkunst noch Altstar Jane Fonda,
die zwar lediglich zwei Szenen gegen Schluß hat (davon eine ganz kurze) – aber was
für welche! Wenn es also überhaupt etwas gibt, das ich an diesem Kunst- und
Meisterwerk kritisieren kann, dann ist es – neben Jimmys etwas zu gewöhnlicher,
wenngleich keinesfalls reizloser Geschichte – das Ende von Micks
Handlungsstrang. Das erfüllt zwar absolut seinen dramaturgischen Zweck, kommt
für meinen Geschmack aber etwas zu sehr aus dem Blauen und entspricht nur
bedingt Micks Charakterisierung bis dahin. Das ist nur ein kleiner
Schönheitsfehler, der die Brillanz des Films kaum schmälert – ihn aber immerhin
die absolute Höchstwertung (und knapp Platz 1 in meiner Jahreswertung 2015)
kostet.
Fazit: "Ewige Jugend" ist ein visuelles,
akustisches und atmosphärisches Meisterwerk, eine kunstvolle, elegante, bittersüße, aber
von überraschend viel (wenngleich teils Galgen-)Humor durchzogene
philosophische Betrachtung des Älterwerdens und der menschlichen Sehnsucht.
Weiter entfernt vom Mainstream kann ein Film kaum sein, aber wer sich auf
Sorrentinos Stil einläßt, der wird Zeuge eines Kunstwerks von ausgesuchter
Schönheit und Erhabenheit.
Wertung: 9,5 Punkte.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger amazon.de-Bestellungen über einen der Links in den Rezensionen oder das amazon.de-Suchfeld in der rechten Spalte freuen.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger amazon.de-Bestellungen über einen der Links in den Rezensionen oder das amazon.de-Suchfeld in der rechten Spalte freuen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen