Ein erster Vorbote für die Awards Season ist stets die Bekanntgabe der Nominierungen für den Independent Spirit Award. Wie der Name schon sagt, qualifizieren sich für die prestigeträchtige Auszeichnung ausschließlich unabhängig produzierte Filme, was naturgemäß die Aussagekraft für die OSCAR-Verleihung stark einschränkt. Da aber jedes Jahr auch Independent-Filme eine gute Rolle bei den Academy Awards spielen, ist der Spirit Award ein guter Wegweiser dafür, welche Produktionen gute Chancen haben, "bei den Großen mitzuspielen".
Dieses Jahr gab es im Vorfeld drei große Favoriten: "Room", "Carol" und "Spotlight". Alle drei erhielten mehrere Nominierungen, jedoch kommt einzig "Carol" ohne Enttäuschungen davon. Todd Haynes' elegante Verfilmung eines eher unbekannten (und unter Pseudonym verfaßten) Romans von Krimi-Spezialistin Patricia Highsmith, in dem es (für die damalige Zeit, also Mitte des 20. Jahrhunderts) ungewöhnlicherweise um eine lesbische Liebesgeschichte geht, ist in allen wichtigen Kategorien nominiert worden: Bester Film, Regie, Drehbuch, Kamera und gleich zwei Mal bei den Hauptdarstellerinnen. Letzteres ist insofern interessant, als zwar sowohl Cate Blanchett als auch Rooney Mara definitiv Hauptdarstellerinnen sind, viele aber damit rechnen, daß eine davon (vermutlich Mara) vom Studio als Nebendarstellerin gepusht werden wird, um die Chancen für beide zu erhöhen. Denn zwei OSCAR-Nominierungen aus einem Film in einer Kategorie schaffen nur wenige Filme.
Während das "Carol"-Team also in ungebremster Feierlaune sein kann (die einzige Kategorie, in der es keine Nominierung gab, war der Schnitt), sieht die Lage für "Spotlight" und "Room" zwiespältiger aus. "Spotlight", ein von manchen Kritikern bereits mit dem Watergate-Klassiker "Die Unbestechlichen" verglichener Journalisten-Thriller über die Aufdeckung eines von Politik und Teilen der Medien über Jahre hinweg gedeckten Mißbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Chicago, gilt aktuell sogar als aussichtsreichster Anwärter auf den Gewinn des OSCARs für den "Besten Film" in einem allerdings extrem kompetitiven Feld. Die Chancen werden durch das Abschneiden bei den Spirit Awards zwar nicht allzu sehr beeinträchtigt, da "Spotlight" die wichtigsten Nominierungen wie erwartet verbuchen kann: als Bester Film sowie für Regie (Tom McCarthy) und Drehbuch (dazu eine für den Schnitt, dafür fehlt die Kamera). Völlig überraschend ging aber die hochgelobte Besetzung in den Darsteller-Kategorien komplett leer aus, obwohl speziell Michael Keaton sogar als Favorit für den OSCAR-Gewinn bei den Nebendarstellern gilt. Das vorläufige Fazit muß hier lauten: Die Spirit Award-Nominierungen haben dem Film wohl nicht geschadet, den Darstellern möglicherweise aber schon. Wobei die Auszeichnung mit dem Ehrenpreis "Robert Altman Award" (eine Art Preis für das beste Ensemble) als Trost gewertet werden kann. Etwas anders sieht die Sache bei "Room" aus. Hier wurde die Hauptdarstellerin Brie Larson zwar nominiert (sie ist auch die Favoritin für die OSCARs), dafür bleibt das beklemmende Drama über eine junge Mutter und ihr Kind, die über Jahre hinweg in einem engen Raum ohne Fenster leben müssen, komplett unerwartet ohne Nominierungen für den besten Film und die Regie. Und das ist schon ein bemerkenswerter Rückschlag für die OSCAR-Hoffnungen des Films von Lenny Abrahamson.
Wo Enttäuschungen sind, da dürfen die an ihren Platz tretenden positiven Überraschungen nicht fehlen. Bei den Spirit Award-Nominierungen profitieren am meisten "Beasts of No Nation" und "Anomalisa" von den Patzern der Konkurrenz. Bei "Beasts of No Nation" ist das wenig verwunderlich, schließlich hat das schonungslose Kindersoldaten-Drama glänzende Kritiken erhalten. Doch da die Netflix-Eigenproduktion aufgrund des parallelen Starts beim Streaming-Dienst von den meisten Kinos boykottiert wurde, war und ist immer noch nicht ganz klar, wie sehr das die Chancen des Werks in der Awards Season beeinträchtigt. Die Juroren der Spirit Awards haben sich davon offensichtlich nicht beeinflussen lassen, wie fünf Nominierungen (eine weniger als "Carol") beweisen, darunter für den jungen Hauptdarsteller Abraham Attah und Nebendarsteller Idris Elba. Doch es ist alles andere als ausgeschlossen, daß sich die mehr von kommerziellen Erwägungen geleiteten "großen" Preisverleihungen weniger objektiv zeigen werden. Ein guter Auftakt ist "Beasts of No Nation" aber definitiv geglückt. Bei "Anomalisa" glaube ich dagegen eher, daß es sich um einen der Filme handelt, die bei den Independent-Preisen glänzen, im Rest der Awards Season aber keine große Rolle spielen. Und zwar schon deshalb, weil es ein Animationsfilm ist; zwar ein Animationsfilm mit tollen Kritiken und von einem weithin geschätzten Filmemacher (Charlie Kaufman, Schöpfer von skurrilen Filmperlen wie "Being John Malkovich" oder "Adaption."), aber eben doch "nur" ein Animationsfilm. Und die bleiben bei den OSCARs und den Golden Globes letztlich meist unter sich (ab und zu mit zusätzlichen Drehbuch- oder Musik-Nominierungen). Dennoch ist das starke Abschneiden hier mit vier Nominierungen (darunter sogar eine für die Sprecherin Jennifer Jason Leigh in der Nebendarstellerinnen-Kategorie) bemerkenswert.
Auch noch erwähnenswert: Der Kannibalen-Western "Bone Tomahawk" mit Kurt Russell (läuft hierzulande Anfang Dezember im Rahmen der Fantasy Filmfest White Nights) überrascht mit zwei Nominierungen (Drehbuch und Nebendarsteller Richard Jenkins), was bei einen Genrefilm wirklich selten vorkommt. Das in Sundance Anfang des Jahres gefeierte Coming of Age-Drama "Ich und Earl und das Mädchen" (gerade in den deutschen Kinos gestartet) schmiert dagegen mit nur einer Nominierung für das "beste erste Drehbuch" fast komplett ab, was den leichten OSCAR-Hoffnungen einen ganz erheblichen Dämpfer versetzt.
Alle Nominierungen kann man in der Onesheet-PDF der "Film Independent Spirit Awards" (so der volle Name) nachlesen.
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